Politik »Der Tag, als ich Charlie wurde«

Politik: v.l.n.r.: Julien, Laëtitia, Héloïse, Armelle, Elise, Claire, Mélanie, Dylan, Danielle, Mathias, Aurélie und Anne
v.l.n.r.: Julien, Laëtitia, Héloïse, Armelle, Elise, Claire, Mélanie, Dylan, Danielle, Mathias, Aurélie und Anne

7. Januar 2015: »Schießerei bei Charlie Hebdo.« Ich sage den Satz in neutralem Ton. Wenn wir Journalisten der NEON-Frankreich-Redaktion eine wichtige Nachricht sehen, lesen wir sie laut vor, um sie den Kollegen mitzuteilen und um sofort darüber zu diskutieren.

Text: Julien Chavanes, 34, Textchef NEON France

Wir sind unser eigener Nachrichtensender. Ein neutraler Ton, der Tag gleitet vorbei. Twitter, Facebook auf jedem Bildschirm, um immer zu wissen, was los ist. Die Anspannung steigt: »Merde!«, dann »Non, non!!!« Und schließlich: »Charb und Cabu sind tot!« Und Wolinski, Tignous, und die anderen. In diesem Augenblick spricht niemand mehr. Nur Niedergeschlagenheit, Wut, Trauer.

Am Abend gehen wir alle zum Place de la République. Dort versammelt sich die französische Nation in ihren schwersten Schicksalstunden. Wir brauchen die Gemeinschaft, wir wollen uns zusammenschweißen. Trauer vermischt mit Trauer. Ein bedrücktes Schweigen liegt über der Menschenmenge. Manchmal schreit jemand: »Freiheit!« oder »Charlie!« Und dann schreien wir alle zusammen. Die Worte werden von den umliegenden Häuserwänden zurückgeworfen.

Eine Kollegin hat einen Freund, der bei Charlie Hebdo arbeitet. Danielle, unsere Chefredakteurin, verbreitet ein Foto über Instagram – wir sind da, und nun ist NEON auch Charlie. Hunderte von Likes in wenigen Minuten. Auch von unseren Kollegen von NEON Deutschland. Wir wissen, dass wir nicht alleine sind. Die Emotionen überwältigen mich. Ich denke an meine einjährige Tochter. In was für einer Welt wird sie aufwachsen? Kann ich sie schützen vor Gewalt, Dummheit und vor Unheil?

Am Place de la République klettert ein Mann auf das Monument in der Mitte des Platzes. Er zerreißt einen Koran. Die Leute pfeifen ihn wütend aus. Ich finde das gefährlich und auch dumm. Am Tag darauf stelle ich fest, dass wir vor einiger Zeit eine Geschichte über ihn geschrieben hatten. Er ist Tunesier und musste aus seiner Heimat vor den Islamisten fliehen.

Die folgenden Tage können wir in der Redaktion so gut wie nicht arbeiten. Die Gedanken kreisen um das Attentat. Wir können fast nicht atmen. Neue Morde, Polizisten überall, auch bei uns in der Redaktion. Und ständige Pseudo-Analysen im Internet: Vereinfachungen, Verwechslungen, Verschwörungen. Am Nachmittag werden die Mörder »neutralisiert«, so der offizielle Wortlaut. Gut so? Schade? Ich weiß es nicht. Niemand ist erleichtert.

Wir wollen redaktionell etwas zu diesem dramatischen Moment machen. Die nächste Titelgeschichte soll sich um das Thema »Toleranz« drehen. Wir schlagen unseren Lesern vor, uns ihre Zeichnungen zu Charlie Hebdo zu schicken, um sie in der nächsten Ausgabe zu veröffentlichen. Wir wollen durchaus eine klare Haltung einnehmen, aber manche Zeichnungen müssen wir trotzdem ablehnen. Die Debatte ist heftig. Wir sind wütend, ringen und verhandeln. Nichts ist mehr rational, alle sind halb wahnsinnig und aggressiv.

Ich will meine Freunde sehen. Die Atheisten, die Juden, die Katholiken und natürlich die Moslems. Ich bin mit ihnen aufgewachsen. Wir habe felsenfeste Freundschaften aufgebaut, die auf Religionen und Ursprünge pfeifen. Haben wir Fehler gemacht? Wir suchen nach Antworten. Wir schreien noch einmal. Alles ist schwierig, aber in diesem Moment auch machtvoll. Und dabei fühlen wir uns gut. Mein Freund Aristi kommt aus der Kabylei, einer Region in Algerien, er bleibt entschlossen: »Wir müssen weiter an uns arbeiten. Für uns. Für unsere Kinder.«

Frankreich hört nicht auf zu diskutieren: in den Bars, auf der Straße, in den Wohnzimmern. Alle müssen ihre Gefühle und Gedanken mitteilen. Jetzt ist der Moment gekommen, an dem wir etwas ändern müssen. Endlich. Wir dürfen diesen wichtigen Termin unserer Geschichte nicht verpassen. Am Sonntag, den 11. Januar, sind wir 4 Millionen, die in Paris und ganz Frankreich, aber auch in Europa und dem Rest der Welt, auf der Straße gegen Terrorismus demonstrieren.

Frankreich hat sich bereits verändert. Ist es besser oder schlechter? Jeder empfindet es anders. Wir sind Charlie. Aber für wie lange?