„Hast du das gelesen?“, fragte mich eine Freundin und sagte: „Der Hashtag, #PrayForParis. In Paris gab es einen Anschlag.“ Dieser Satz ist jetzt fast eine Woche her.
Nein, sagte ich. Denn ich hatte geschlafen. Ich saß in einem Restaurant. Ich stand auf einer Party. Ich lag im Bett. Ich schlief mit meinem Freund. Ich saß am Bett meines Kindes. Ich starrte in den Computer. Während andere erschossen wurden.
Am Tag danach: Der Blick in leere Gesichter. Die SMS, dass es Freunden in Paris gut gehe. Das Telefonat einer Freundin, die überlegt, aus Paris wegzuziehen. Die SMS einer Freundin an Freunde in Paris, die fragte: Seid ihr okay? Die Antwort: Bin in Berlin mit den Kindern. Eric zu Hause in Paris im Keller. Nix ist okay …
Der Trotz derer, die jetzt erst recht feiern gehen. In Paris, in London, in Berlin. In München, Hamburg. Und in jeder Stadt.
Die Erinnerung an 9/11. Die Erinnerung an das surreale Rausgehen auf die Straße, die leerer wirkte als noch vor ein paar Stunden und das Gefühl vor Fremden, das nicht auszusprechen war: Habt ihr das auch gesehen? Das ist mehr als vierzehn Jahre her.
Die vielen Nachrichten über Paris. Artikel. Bilder. Der gefühlte Schlag in die Magengrube beim Anblick der Leichen in der Konzerthalle Bataclan. Die ungebremste Macht der Bilder. Die Angst, die Zeitung aufzuschlagen. Die Angst, das Wort Bataclan zu googeln. Und es doch zu tun.
Und immer wieder die Frage, in den Kommentaren, in den Leitartikeln: Wie begegnen wir dem Terror? Und die Antwort ist so oft: Indem wir weitermachen, indem wir ein gutes Leben führen. Es wird jetzt viel von unseren Werten gesprochen, die wir verteidigen müssen. Werte wie Freiheit. Aber ist Freiheit: Party machen? Oder: Klamotten kaufen?
Die Nacht in Paris. Ich bin immer noch fassungslos – aber nicht überrascht. Ich warte darauf, dass so etwas wieder passiert. In einem Café, auf Weihnachtsmärkten. In Zügen. Flugzeugen. Dieser Fatalismus, der sich bei dem Gedanken an die eigene, persönliche Sicherheit einschleicht: Wachsamkeit im Alltag bringt eigentlich gar nichts, um sich vor Attentaten zu schützen. Sicherheitsmaßnahmen bringen auch nichts, wenn sich jemand dazu entschließt, auf der Straße mit einem Maschinengewehr andere zu töten. Freunde von mir sagen, das Risiko im Straßenverkehr zu sterben, sei ja viel größer als bei einem Terroranschlag. Ist das tröstend, realistisch oder einfach nur hilflos?
Der Gedanke, wegzuziehen. Aufs Land. Weg von den Menschenansammlungen. Der Gedanke, nie wieder entspannt ein Konzert besuchen zu können.
In den Tagen nach Paris sprechen europäische Politiker und Zeitungen von Krieg. Ich möchte keinen Krieg führen. Schon gar nicht einen Krieg, der als Reaktion auf einen Angriff in Europa geführt wird – während unzählige Angriffe auf Länder wie dem Libanon, Syrien, Gaza, Irak oder Afghanistan unkommentiert bleiben.
Am Tag des Pariser Anschlags gab es auch die Meldung von 44 Toten in Beirut. Ein weiterer Anschlag der IS. Es wurden die Leichen von 78 Jesidinnen im Irak gefunden.
Als eine Kollegin, die einen jungen Iraker als Vormund betreut, diesem von der Tat in Paris erzählt, zuckt der nur mit den Schultern. Nur 129 Tote?
In dieser Welt wird ein ganzes Land wie Syrien im Krieg alleingelassen, sodass seine zivilen Vertreter verzweifelt vor die Weltgemeinschaft treten und sagen: „Manchmal fühlen wir uns wie auf einem anderen Planeten.“ In dieser Welt werden Flüchtlingsunterkünfte angezündet. Und Friedensbewegungen wie auch Menschen, die am Bahnhof Flüchtlinge mit einem Klatschen begrüßen, abschätzig belächelt. Was ist das für eine Welt, in der ein gut ausgebildeter Mittzwanziger fragt: Wie bilde ich mir eine politische Meinung? Ich möchte etwas tun. Nur was?
In dieser Welt ziehen junge Deutsche als Einzelkämpfer in den Krieg, auf Seiten der Kurden, oder auf Seiten des IS. Die Attentäter von Paris sind in Europa aufgewachsen. Sie sind in Europa radikalisiert worden. Nicht in Syrien. Was treibt einen Menschen an, auf andere Menschen während eines Konzertes zu schießen?
Das Einzige, was uns alle eint, egal, auf welcher Seite wir stehen, ist: Niemand möchte in Armut und ohne Hoffnung leben. Und dann? Es ist eine Welt ohne gemeinsame politische Werte. Wie soll das gehen, in einer globalisierten Welt?
Alles wächst mit allem zusammen. Wenn in New York die Türme des World Trade Centers in den Staub fallen, verliere ich meinen Job. Wenn in Syrien Krieg ist, ziehen Flüchtlingen in meine WG. Wenn in Syrien, im Irak oder Afghanistan Menschen durch Drohnen sterben, erschießen Menschen in Europa tanzende Jugendliche. Menschen beim Abendessen. Liebespaare. Freunde.
Man kann nichts gegen den Terror tun, er kann jederzeit da sein, sagen Kriminologen, sagen Politiker. Natürlich kann man etwas tun. Globalisierung funktioniert ja auch auf anderen Ebenen – warum nicht in der Politik? Warum nur im Handel? Man kann sich für mehr Demokratie, für mehr Mitgefühl und für mehr Politik entscheiden. Denn die Frage „Was ist ein gutes Leben?“ ist immer eine politische Frage. Unser aktuelles Leben ist kein gutes Leben. Wir halten zu viel aus. Anstatt zu handeln. Wir machen so weiter. Anstatt etwas zu ändern.
Ich denke an das Foto des toten Jungen am Strand von Bodrum.
Und an den Kommentar unter einem Artikel: „It’s the shoes.“ Und weiter: Die Schuhe, die der ertrunkene Dreijährige trug, sind Schuhe, die wir unseren Kindern anziehen.
Wir fühlen uns dem Jungen nah, weil wir die Schuhe wiederkennen.
Was sagt das über eine Gesellschaft aus?
Wir zählen die gemeinsamen Toten. In diesem Jahr sind offiziell mehr als 2000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Frauen, Kindern, Männer. Menschen, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten. Wie die Menschen in Paris.
Mein Mitgefühl gehört der ganzen Welt. Dank der Medien nehme ich am gesamten Geschehen teil und bin gezwungen, mich dazu emotional zu äußern. Doch es überfordert mich. Ich habe nur einen begrenzten Radius an Gestaltungsmacht. Stimmt das wirklich? Oder mache ich es mir nicht doch zu einfach. Ich mache weiter wie bisher. Fahre am nächsten Tag wieder mit dem Auto zur Arbeit, produziere Produkte und gebe viel zu viel Geld für andere Produkte aus, die von Menschen für einen minimalen Lohn produziert werden. Wir zementieren Armut mit unserem Lebenswandel.
In einer globalisierten Welt kreise ich um mich selbst. Wir empören uns über die Missstände der Welt und fragen auch jetzt: Wie konnte das nur passieren? Aber wir ändern nichts. Der Politik Versagen vorzuwerfen, und selbst nichts zu tun, um die Demokratie zu stützen, ist einfach. Und jede Ausgrenzung von Muslimen und die gleichzeitige Empörung über die Anschläge von Paris ist reine Doppelmoral.
Ist das ein gutes Leben?
Angela Merkel hat in der Flüchtlingskrise auf eine menschliche Art und Weise gehandelt. Und nicht nach Plan. Wie Geheimdienste, die Syrien strategisch von Assad befreien wollen. Und damit Kriegsführung betreiben. Nicht Friedensgespräche führen. Wäre ja auch naiv. Wirklich?
Als in diesem Sommer Deutsche Flüchtlinge in Empfang nahmen, ihnen Wasser, Obst, Brot und Decken brachten und bis zur Erschöpfung Hilfe für diejenigen Muslime leisteten, die vor dem Terror geflohen waren, geschah etwas Wunderbares: Menschen hatten sich einander als Menschen wahrgenommen. Und nicht als Muslime und Europäer. Oder als Feinde. Für eine Terrorgruppe wie den IS eine der schlimmsten Niederlagen, die man sich vorstellen kann.
Wir sind in einer Zeit angelangt, in der zum Glück nach einem Angriff nicht nur mit Vergeltung gedroht wird. Nicht nur mit Bomben Rache geübt wird. Sondern auch mehr Mitgefühl gezeigt wird. Und Vergebung.
Was uns fehlt: Der Blick für das Ganze. Globale politische Werte. Mehr Engagement des Einzelnen. Und mehr Empathie. Das ist vielleicht die größte Leistung: Diejenigen anderen nicht krank zu nennen, die krank handeln. Kein Mensch wird böse geboren. Die Frage jetzt lautet nicht: Wie begegnen wir dem Terror? Sondern: Was bringt einen Menschen dazu, zu töten?
Andere nicht als die anderen zu bezeichnen, ist eine Leistung, die die Welt letztlich von uns verlangt.
Denn die anderen gibt es nicht mehr.