Politik »Die Nerven liegen blank«

Politik: »Die Nerven liegen blank«
Kilian Kleinschmidt, 53, ist Entwicklungshelfer. Er leitete in Zaatari an der jordanisch-syrischen Grenze lange eines der größten Flüchtlingscamps der Welt. Er hat dort gelernt: Viele Konflikte lassen sich vermeiden, wenn die Bewohner möglichst selbstbestimmt leben dürfen.

Interview: Judith Liere, Fiona Weber-Steinhaus | Foto: Ali Ali/laif, Soeren Stache/picture-alliance/dpa

In Deutschland werden Flüchtlinge auch in Zeltcamps untergebracht. Ist das akzeptabel?
Man sollte das nicht überdramatisieren, Zelte können angenehmer sein als stickige Schlaflager in Turnhallen. Die Menschen brauchen ein Dach über dem Kopf ob es ein Zelt, ein Container oder eine Wohnung ist, spielt erst einmal keine Rolle.

Ist es undankbar, wenn Flüchtlinge gegen die Bedingungen in ihren Unterkünften protestieren?
Das passiert, wenn Menschen keine Möglichkeit zur Selbstbestimmung haben und nicht gefragt werden, was sie wirklich brauchen. In Zaatari war die Grundversorgung gesichert, trotzdem wurden die Helfer anfangs mit Steinen beworfen.

Warum?
In Lagern werden menschliche Individuen zum Massenobjekt. Zu Beginn einer Katastrophe ist das oft nicht vermeidbar, aber mittelfristig birgt es ein hohes Frustpotenzial. Den Leuten ist auf der Flucht schon jegliche Menschenwürde abhandengekommen, sie wurden gehandelt wie Ware. Dann sind sie endlich am Ziel und landen in einer Unterkunft, die mehr Abstelllager als Lebensraum ist. Da liegen die Nerven natürlich blank und die Lage eskaliert, wenn man sie stundenlang für Essen anstehen lässt.

Wie kann man das verbessern?
Erst mal muss man so viel Privatsphäre wie möglich schaffen, damit vermeidet man die meisten Konflikte. Können die Flüchtlinge außerdem selbst entscheiden, was sie essen und anziehen, fühlen sie sich wieder als Individuen. In Zaatari haben wir Chipkarten eingeführt, mit denen die Leute einkaufen können. So fühlen sie sich weniger als Opfer, die Almosen bekommen.

Haben sie Tipps für die deutschen Unterkünfte?
Man sollte Flüchtlinge mehr in tägliche Arbeiten und in die Verwaltung einbinden das sind ja Bereiche, die sie direkt betreffen. Außerdem ist ein gutes Informationsmanagement wichtig: Wenn jemand weiß, wie lange er in einem Übergangslager bleiben muss, kann er die Situation auch viel besser aushalten.