Ich bin eine Frau, 29 Jahre alt, und stehe mit einem Glas Bier in der Hand in einem Pub. Einen Moment lang habe ich Angst, dass er kneift: Christoph Schnurr, Bundestagsabgeordneter der FDP, Vorsitzender des Frankfurter Kreisverbandes. Er soll immer pünktlich sein, der Schnurr, habe ich über ihn gelesen, doch jetzt ist es fünf Minuten nach sieben, und keine Spur von ihm. Es ist Samstagabend, der Pub ist brechend voll, die Bundesliga wird live übertragen, außerdem irgendein Rugbyspiel, die Kellnerinnen tragen im Minutentakt riesige Burger mit Pommes aus der Küche. Da öffnet sich die Tür, ein Mann kommt herein und läuft ohne sich umzusehen auf die Theke zu: rote Hose, Wildlederstiefel, dunkler Lodenmantel. Ein Klischee ist ja nur dann abgedroschen, wenn es nicht zutrifft.
Christoph Schnurr, 29 Jahre alt, Freunde nennen ihn Schnurri, gibt mir erst mal höflich die Hand und wirkt dabei entspannt – erstaunlich eigentlich, weil er sich ja gerade mit einer Journalistin in einer Bar verabredet hat. »Die Pressestelle würde durchdrehen, wenn sie das wüsste«, sagt Schnurr, es klingt stolz. »Aber ich kann selbst entscheiden, mit wem ich mich wo treffe und Interviews gebe.« Vielleicht fühlt sich der Berufspolitiker Christoph Schnurr aber auch einfach nur geschmeichelt, dass jemand sich für ihn interessiert. Die Anfrage für dieses Gespräch war bereits gestellt, als eine Kollegin vom stern darüber schrieb, wie sie in einer Hotelbar von FDP-Dino Rainer Brüderle dumm angemacht wurde. »Brüderle hätte das nicht sagen sollen, klar«, sagt Schnurr. »Aber es gibt auch gewisse Grenzen der Berichterstattung.«
Die Penis-Affäre
Drei Tage vor unserem Treffen stand in der »Bild«, dass einer von Schnurrs FDP-Kollegen aus der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung seinen Penis fotografiert und per Mail an eine Frau verschickt habe. Die Frau fand das offensichtlich weder heiß noch lustig, dafür war die FDP wieder um einen Skandal reicher. Ist deine Partei eigentlich komplett am Ende? »Nein. Ich lese keine Meinungsumfragen«, sagt Schnurr beinahe trotzig. »Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass wir es wieder in den Bundestag schaffen.« Es klingt wie ein Mantra. Und die Penis-Nummer? »Dazu kann ich nichts sagen, das will ich nicht kommentieren«, sagt Schnurr dann doch dazu und verzieht sichtlich angeekelt das Gesicht. Trotzdem: »Mit anderen Parteien wird nicht halb so kritisch umgegangen wie mit der FDP.« Er bestellt erst mal ein großes Guinness.
Vielleicht sollte ich lieber mit dem üblichen Smalltalk beginnen: Stehst du auf Fußball? Ja, Eintracht Frankfurt. Bist du öfter hier? Nicht mehr so häufig, früher sei er manchmal mit Kumpels hergekommen. Wird man von seinen Mitschülern eigentlich verarscht, wenn man mit vierzehn Jahren bei den Jungen Liberalen eintritt? Nein, wieso? Schnurr versteht die Frage tatsächlich nicht. Er war Schüler am Frankfurter Goethe-Gymnasium, er interessierte sich für Politik und wollte sich über die Jugendverbände der Parteien informieren. Die Liberalen schickten Schnurr ihre Broschüre als Erste. »Diese großen FDP-Themen, Freiheit und Verantwortung, weniger Staat, das hat mir damals alles ziemlich gut gepasst«, sagt Schnurr.
Drohnen, Bomben und Marlboro
Heute interessiert er sich vor allem für Verteidigungspolitik. Schnurr sitzt für seine Fraktion im zuständigen Ausschuss, eine Woche zuvor hat er in einer Bundestagsrede dafür plädiert, den Einsatz bewaffneter Drohnen nicht grundsätzlich abzulehnen. Ich gucke ihn irritiert an. Schnurr registriert das sofort und sagt: »Na ja, bei einem normalen Kampfflugzeug wirft man ja auch die Bombe ab und ist nach einer Zehntelsekunde schon wieder meilenweit von seinem Ziel entfernt.« Ich könnte jetzt darüber mit ihm diskutieren, aber seine Meinung steht felsenfest im Raum, stattdessen frage ich Schnurr, ob er raucht. Als er Ja sagt, greifen wir beide nach unseren Zigaretten. Vor der Tür ist es saukalt, obwohl in der Ecke ein Heizstrahler steht. »Alles, was Spaß macht, wird heutzutage verboten oder versteuert«, motzt Schnurr, ganz der Liberale, während er sich eine Marlboro mit einem gelb-blauen FDP-Feuerzeug anzündet. Er wiederholt den Satz, anscheinend findet er ihn gut.
Wahlkampf mit FDP-Kondomen
Schnurr erzählt die Geschichte seiner politischen Karriere, dabei will er nicht unterbrochen werden. Tue ich es doch, sagt er: »Darauf komme ich später noch zurück.« Christoph Schnurr hat den Politikersprech schon ziemlich gut drauf. Kein Wunder: Es ist elf Jahre her, dass er sich das erste Mal für den Bundestag aufstellen ließ. Er war damals achtzehn, und er war gutes Marketing für eine Partei, die im Ruf steht, dass ihre Wählerschaft nur aus sechzigjährigen Zahnärzten und Porschefahrern besteht. Trotzdem stand er auf der Landesliste ziemlich weit unten. »Natürlich war mir damals klar, dass ich keine wirkliche Chance hatte.« Egal. Schnurr witterte die Möglichkeit, sich innerhalb der Partei bekannt zu machen – eher ein langfristiges Investment. Auch wenn er dafür Kondome mit dem FDP-Logo verteilen musste.
Der Wahlkampf damals hat Schnurr angefixt, und er dachte zum ersten Mal darüber nach, Berufspolitiker zu werden. »Aber erst mal musste ich Abi machen und bin zur Bundeswehr.« Danach machte Schnurr eine Ausbildung zum Industriekaufmann und nebenher immer wieder Lokalpolitik. Sogar als er es beim dritten Versuch, 2009, tatsächlich in den Bundestag schaffte, studierte Schnurr parallel BWL. »Politik war immer eher ein Hobby für mich. Aber mein allerliebstes«, sagt er und grinst. Aber warum ausgerechnet die FDP und ihre eher jugendfeindlichen Themen? Wie kann man zum Beispiel als junger Mensch ernsthaft Studiengebühren vertreten? Schurr redet mehr oder weniger geschickt drumherum, nämlich vom großen Zusammenhang: »Wir müssen in Bildung investieren. Wichtig ist vor allem, dass das Geld direkt den Universitäten zukommt.« Das Thema scheint ihm aber nicht ganz behaglich zu sein, er will ja keinen unsympathischen Eindruck machen. Dann erzählt er noch was über die »einfache Friseurin, die steuerlich entlastet werden muss«, und springt von einem Punkt zum nächsten.
Kriegsähnliche Zustände
Irgendwann geht es um Afghanistan. Schnurr war schon ein paarmal dort »unten«, unter anderem im Kader von KT Guttenberg. Mit einer kugelsicheren Weste lief er durch Masar-i-Scharif. Abends wollte Schnurr dann seine Freundin anrufen – trotz der hohen Telefonkosten. Weil: »Die hat sich natürlich Sorgen um mich gemacht«, sagt er und reißt seine Augen weit auf. Der FDP-Außenminister sprach von einem »bewaffneten Konflikt« am Hindukusch, die Kanzlerin von »kriegsähnlichen Zuständen«, Schnurr ärgerte sich an jenem Abend vor allem über das blockierte Telefonnetz. Am nächsten Tag erfährt er, dass die Soldaten beim Telefonieren kaum Privatsphäre haben. »Da habe ich mir überlegt, dass man das mit der Telekommunikation in Afghanistan noch verbessern kann.« Also arbeitete Schnurr an einem entsprechenden Antrag des Verteidigungsausschusses mit. Die Soldaten sollen doch bitte Trennwände in ihren Telefonkabinen bekommen. »Klar, darauf bin ich dann schon stolz«, sagt er. »Das ist ein konkretes Ergebnis meiner Bemühungen.«
Der hässlichste Ort in Berlin
Wir bestellen noch zwei Bier. Noch eine rauchen? Klar. Wir nehmen das Bier mit nach draußen und rauchen zwei Zigaretten am Stück. Jetzt mal ehrlich, Christoph: Fühlt man sich nicht komisch unter so vielen Alten? »Den meisten bei der FDP merkt man gar nicht an, wie alt sie sind.« Hat er das gerade wirklich gesagt? Haha! Was für ein geiler Witz! Aber vielleicht hat Schnurr sogar Recht: Ihm merkt man schließlich auch nicht an, dass er noch keine dreißig Jahre alt ist. Wir reden über die Sitzungswochen in Berlin: Dienstags spielt Schnurr Fußball mit den Kollegen, beim »FC Bundestag«. Parteiübergreifend, versteht sich. »Da gibt es Kollegen, die lassen alles stehen und liegen, wenn das Training beginnt. Die rennen quasi aus der Sitzung raus, um auf den Platz zu gehen.«
Ich lache, vielleicht ein bisschen zu laut, irgendwann nach dem vierten Pils bin ich ziemlich betrunken. Schnurr lacht mit. Und sonst so? Wie ist denn der Alltag als junger Berufspolitiker in der Hauptstadt? Schnurr wohnt in einem Einzimmerapartment in der Nähe vom Potsdamer Platz, einem der hässlichsten Orte Berlins. Das weiß er selbst. Er verlässt meistens im Dunkeln seine Wohnung und kehrt im Dunkeln zurück. »Von der Stadt bekomme ich nicht viel mit. Ich bin ab sieben in der Früh im Büro.« Jetzt klingt er ernsthaft frustriert. Mittags, in irgendeiner Sitzungspause, kauft sich Schnurr manchmal ein völlig überteuertes belegtes Brötchen, das jemand auf einem Servierwagen durch die Gänge schiebt. Ich bestelle noch mehr Bier. Und dann irgendwann fällt der erste ehrliche Satz des Abends: »Politik ist ein Scheißgeschäft.« Was genau er damit meint, bleibt offen. Die langweiligen Sitzungswochen? Die Unbeliebtheit der FDP? Brüderle? Schnurr ist jetzt auch betrunken, aber noch nüchtern genug, um sich nicht um Kopf und Kragen zu reden.
Das Leben danach
Im Frühjahr will er noch mal nach Afghanistan reisen – raus aus dem grauen und langweiligen Bundestag, rein in die kugelsichere Weste. Die FDP liegt derzeit in Meinungsumfragen bei knapp vier Prozent. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass es vorerst Schnurrs letzte dienstliche Reise zum Hindukusch sein wird. Was macht er eigentlich, wenn die FDP es nicht mehr in den Bundestag schafft? »Das wird nicht passieren«, wiederholt er sein Mantra, sein Blick ist jetzt glasig. Wenn doch, wäre Christoph Schnurr, einstiger Hoffnungsträger der FDP und fünftjüngster Bundestagsabgeordneter, zum ersten Mal in seinem Leben arbeitslos. »Ich suche mir dann einen Job, vielleicht gehe ich in die Wirtschaft«, sagt Schnurr. Ich bezahle unsere Rechnung. Wir verlassen die Bar, gehen vor die Tür und geben uns zum Abschied förmlich die Hand. Wenn ich an diesem Abend etwas über die FDP gelernt habe, dann das: Die einstige Partei der Besserverdienenden und Sieger ist eine Partei geworden, die sich vor allem als Opfer sieht: als Opfer ihrer unrechtmäßigen Unbeliebtheit. Nach zwei Schritten drehe ich mich nach Christoph Schnurr um, aber er ist in der Dunkelheit verschwunden.
Dieser Text ist in der NEON-Ausgabe vom April 2013 erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben ab September 2013 gibt es außerdem auch digital in der NEON-App.