Politik Auf ein Glas mit… Katja Kipping (Linke)

Politik: Auf ein Glas mit… Katja Kipping (Linke)
Im Wahlkampf 2013 trifft NEON junge Politiker dort, wo sie – hoffentlich – offen reden: In der Kneipe. Hilft Weißweinschorle dabei, Sozialismus zu verstehen?

Es zeigt sich mal wieder, dass die Welt schlecht ist, als ich auf Katja Kipping warte, die Vorsitzende der Partei Die Linke, in deren Grundsatzprogramm steht, die Mitglieder hielten »an dem Menschheitstraum fest, dass eine bessere Welt möglich ist.«

Ich sitze draußen an einem der selbst gezimmerten Tische vor dem kleinen Café Hubert im Berliner Wedding, das Kipping vorgeschlagen hat, weil sie mit Mann und Kind um die Ecke lebt, wenn sie nicht gerade in ihrem Wahlkreis Dresden ist. Auf meinem Handy lese ich, dass Barack Obama, Friedensnobelpreisträger 2009 (Begründung: »Demokratie und Menschenrechte gewinnen an Stärke«), höhnt, er werde keine Kampfflugzeuge aufsteigen lassen, »um einen 29-jährigen Hacker zu fassen.« Er meint Edward Snowden. Die Staaten der Europäischen Union, Friedens­­nobelpreisträger 2012 (Begründung: »Erfolgreicher Kampf für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte«), können oder wollen Snowden bei der Asylsuche nicht helfen. Katja Kipping hat an diesem Tag gegen die »Große Koalition gegen Bürgerrechte« geschimpft, weil sowohl CDU als auch SPD eine Aufnahme Snowdens ablehnen. »Die Linke« ist die einzige Partei im Bundestag, die für die Abschaffung aller Geheimdienste plädiert. Das ist radikal. Es wäre vielleicht die einzige Möglichkeit, Spionageexzesse à la NSA zu verhindern. Aber es ist eine unrealistische Forderung, die einer reinen Oppositionspartei. In Umfragen steht »Die Linke« bei knapp sieben Prozent.

Man müsste auf die Straße gehen, bestellt aber nur eine Quiche

Es könnten gute Zeiten sein für die Weltverbesserin Katja Kipping. Sind es aber nicht. Am Tisch neben mir diskutieren ein paar Männer in meinem Alter über Snowdens Enthüllungen: »Das darf man der Regierung nicht durchgehen lassen, man müsste echt auf die Straße gehen!« Aber wir bleiben alle sitzen, die Kellnerin empfiehlt die Quiche.

Kipping, 35, ist schon von Weitem an ihren roten Haaren zu erkennen. Je näher sie kommt, desto unauffälliger wird sie, ihre Stimme ist leise, ihr Akzent angenehm sächsisch. Kipping bestellt die erste Weißweinschorle, das Getränk junger Eltern (knallt schnell und beinhaltet so viel Wasser, dass man früh in der Nacht wieder einsatzbereit ist). Frau Kipping, was würden Sie denn im Fall Snowden machen, wären Sie an der Regierung beteiligt? Das zarte Lächeln weicht einem geschäftsmäßigen Blick. Kipping überlegt lange, dann sagt sie: »Ich würde ihm Aufenthalt anbieten.« Auf meinen Einwand, dass das gut gemeint sei, es aber ausgeschlossen wäre, dass sich Deutschland gegen die Vereinigten Staaten wendet, weil für solch einen Schritt die ganze Weltkarte anders aussehen müsste, sagt Kipping nur, wieder sehr leise: »Ich bin überzeugt, man kann es anders angehen als die aktuelle Regierung.«

»Die Ideologie der Ideologielosigkeit«

Das ist so mit Katja Kipping: Man braucht ein bisschen Fantasie für ihre Positionen. Das Problem: Fragt man junge Erwachsene nach ihren politischen Meinungen, sind sie heute eher pragmatisch als fantastisch. In einer NEON-Umfrage sagten nur vier Prozent der unter 35-Jährigen, sie seien links. Ein Freund erzählte mir kürzlich erschrocken, der Wahl-O-Mat habe ihm die Linkspartei vorgeschlagen – als hätte man ihm empfohlen, Al Kaida zu wählen. Ich bin mit diesem Freund nicht weit vom Berliner Wedding aufgewachsen. Unsere Eltern waren das, was man damals links nannte. In meiner Jugend war es wichtiger, bei der Antifa mitzumachen als im Fußballverein. Dann verdrängte Rot-Grün Helmut Kohl, die Vor- und Mitstreiter unserer Eltern kamen an die Macht. Sie und wir lernten: Auch Linke führen Krieg und bestrafen Arbeitslose. Sie erklärten uns: Es gibt dazu keine Alternative. »Das ist die Ideologie der Ideologielosigkeit«, sagt Kipping, »es heißt, es gehe nicht mehr um die großen Ideologien, der Sozialismus sei gescheitert – aber diese Behauptung ist auch nur eine kapitalistische Ideologie.«

Jedenfalls: Der Kapitalismus hat in den vergangenen Krisenjahren sein hässlichstes Gesicht gezeigt, aber Kippings Partei profitiert davon nicht. Einige Forderungen der Linken wurden zum politischen Mainstream: Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan, Mindestlohn, Finanztrans­aktionssteuer, Mietpreisbremse. Und als die jungen Wähler kurzzeitig doch Lust auf etwas ganz anderes hatten, sagten sie in den Umfragen, sie würden die Piraten wählen. Die Linke gilt – obwohl sie etwa in ­Fragen der Netzpolitik ganz weit vorne ist – als ewig gestrig. Wenn ihr jemand helfen kann, dann Katja Kipping. Eine Frau, die beweist, dass ihre Partei nicht völlig irre ist, auch wenn es manche Mitglieder sind.

Das Lieblingsthema: die 20-Stunden-Woche

Alles im und vor dem Café Hubert sieht so schön aus, als wäre es mit Instagram fotografiert worden. Der Laden gehört einem Vater aus dem Kindergarten von Kippings Tochter, die anderthalb ist. Um 16 Uhr holt Kipping die Kleine, dann ist sie nur noch in Notfällen zu erreichen, liest keine Mails mehr. Ein Treffen um 19 Uhr wie heute: die absolute Ausnahme. Damit lebt Kipping ihre eigene Vision vor: Alle dürfen weniger arbeiten. Kippings Lieblingsthema ist die 20-Stunden-Woche und das bedingungslose Grundeinkommen, es braucht keine ganze Weinschorle, um darauf zu kommen. Jeder in Deutschland erhält 1000 Euro pro Monat. Dafür werden Hartz IV, Bafög, Elterngeld und Kindergeld abgeschafft. Finanziert werden könnte das Ganze zum Beispiel durch Spitzensteuersätze und eine Sozialabgabe von 35 Prozent auf alle Einkommen.

Selbst in ihrer eigenen Partei bekommt Kipping für ihren Traum keine Mehrheit. Die Traditionalisten fürchten, der Arbeiterklasse würde so das Wichtigste genommen, das sie hat: der Wert ihrer Arbeit. Vor gut einem Jahr wurde Kipping gemeinsam mit dem grauen Schwaben Bernd Riexinger Parteivorsitzende – weil der alte Gewerkschafter und die junge Akademikerin (Slawistik, Amerikanistik, Öffentliches Recht) die Einzigen waren, auf die sich die verkrachte Partei einigen konnte. Bis zu Kippings Wahl war Die Linke eine ziemlich unsolidarische Solidaritäts­­partei. Wenn Kipping über ihre Karriere redet, klingt das so, als habe sie nichts geplant, sondern sei da oben einfach gelandet. Aber so stellt man es dar, wenn man früh Erfolg hat. Tatsächlich kann ich mir Kipping nicht als Chefin vorstellen, die die Alphatiere Gysi, Lafontaine oder Wagen­knecht in Besprechungen unterbricht. Weil ich schon bei meiner zweiten Weinschorle bin, mache ich den Fehler, das auch zu sagen. ­Kipping lächelt ihr skeptisches Lächeln. Sie kennt wahrscheinlich jede Form von männlichem Sexismus, man hat bestimmt schon oft versucht, sie zu verniedlichen. Was macht sie dagegen? »Im Notfall hilft Countersexismus!« Countersexismus? »Den Männern zurücksagen, dass ihre Krawatte heute besonders adrett sitzt, ob sie die denn selber ausgesucht haben und ihnen so den Spiegel vorhalten.« Kipping blickt mir streng in die Augen. Ich bestelle mehr Schorle.

Dissidentin oder FDJ-Vorsitzende?

Als die Mauer fällt, ist Kipping damit beschäftigt zu pubertieren. Sie ­erzählt mir eine interessante, aber harmlose Anekdote über die Sicht ihrer Eltern auf den SED-Staat, die sie aber am Ende auf keinen Fall ­gedruckt sehen will. Sie ist Parteivorsitzende, sie achtet panisch darauf, nichts Privates zu verraten, natürlich will sie nichts Falsches sagen, auch wenn es erst mal falsch klingt, als sie schließlich sagt: »Wer weiß, wenn die Mauer nicht gefallen wäre, vielleicht wäre ich Dissidentin geworden, vielleicht auch FDJ-Vorsitzende.« Kipping hat kein verklärtes Bild der DDR, aber sie ist Chefin einer Partei, in der man auch ein paar verständnisvolle Worte über den Osten verlieren muss. Mit 21 wurde Kipping jüngste Abgeordnete im sächsischen Landtag. Sie hielt als Jugendliche nichts von Parteien, traf aber als Studentin bei Uniprotesten oder beim Kampf gegen Nazis und Autobahnen so oft einstige PDSler, dass sie 1997 zum Bundesparteitag nach Rostock trampte und einfach mitmach­te. Ihre Eltern hatten nie Angst, dass ihr beim Trampen etwas passiert: ­Kipping war immer sehr vorsichtig. Eine revolutionäre Streberin. Die Weinschorlen machen sie nicht unvorsichtig.

Aber Kipping ist nicht nur gefangen in den Zwängen ihrer Partei. Sie ist auch gefangen in den Zwängen ihres akademischen Denkens. In den meisten ihrer Sätze taucht plötzlich der Begriff »Systemtheorie« auf, sie zitiert gerne Christa Wolf. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie mit Stammwählern auf Marktplätzen ins Gespräch kommt. Als ich sie frage, ob ihr Mann, den sie über die gemeinsame Arbeit für ein Magazin für »Freiheit und Sozialismus« kennengelernt hat, ihr manchmal sage, dass die Politik sie verändert habe, reagiert sie so verständnislos, als sei allein dieser Gedanke für ihren Mann und sie eine intellektuelle Zumutung. Die Vorsitzende einer Partei, die vieles vereinfachen muss, um gehört zu werden, verachtet Vereinfachung. Sie sagt zwar, sie wolle »nicht nur die bessere Politik machen, sondern auch die besseren Partys feiern als andere Parteien«, aber ihr Konzept der 20-Stunden-Woche klingt aus ihrem Mund auch bei der dritten Weißweinschorle nicht wie ein Traum. Wörtlich: »Männer und Frauen hätten gleichermaßen Zeit für Erwerbs- und ­Familienarbeit, politische Einmischung und produktive Muße.« Das klingt für mich nach Stundenplan von Erich Honecker. Das ist schade. Eigentlich bin ich langsam von Kippings Sozialismus berauscht. Sie dagegen wirkt so leidenschaftslos, als hätte sie gleich Theorieprüfung. Nach drei Stunden will Kipping eine Zigarette rauchen, eine »Abschiedszigarette«, sagt sie – als bräuchte es für alle Unvernunft eine Begründung.

Wir sind die Letzten vor dem Café Hubert. Die Kellnerin kommt und wünscht Kipping alles Gute für die Wahl. Es sei Zeit für mehr Gerechtigkeit, sagt sie. »Ganz genau«, sagt Katja Kipping. »Stimmt«, sage ich. In den EU-Krisenländern droht unserer Generation der Kollaps, in der Türkei geht unsere Generation seit Monaten auf die Straße und verändert die Gesellschaft. Bei uns wird im Herbst Angela Merkel, wenn kein Wunder geschieht, wieder Kanzlerin. Die Zahlen sprechen für sie, Jugendarbeitslosigkeit, Staatsverschuldung – und wenn die Zahlen mal nicht für sie sprechen, spricht sie nicht darüber. Merkels Ziel ist es, möglichst vielen Deutschen ein gutes Gefühl zu geben. Katja Kippings Ziel ist es, möglichst vielen Deutschen zu erklären, dass es ihnen nicht gut geht. Die bittere Wahrheit ist: Es geht den meisten Deutschen viel zu gut, um Katja Kipping zu wählen.

Dieser Text ist in der NEON-Ausgabe vom September 2013 erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben ab September 2013 gibt es außerdem auch digital in der NEON-App.