Protokolle und Übersetzungen: Claudia Hammermüller | Fotos: privat
Vor einer Woche fanden die Attentate in Paris statt. Dank Reisefreiheit, Erasmusprogrammen und europäischer Freizügigkeit haben wir Freunde in und aus vielen Ländern oder sind selbst viel unterwegs. Die Anschläge von Paris treffen uns – wenn nicht sogar unmittelbar – über unsere Freunde und Freunde von Freunden.
Der Morgen nach den Anschlägen: Gefühlt alle 15 Minuten ploppt ein »in Sicherheit« in meiner Facebook-Timeline auf. Ich bin überrascht, wie viele meiner Freunde und Bekannten in Paris sind – zum Glück sicher und unversehrt. Wie haben sie den vergangenen Freitag in Paris erlebt? Hat sich ihre Welt verändert? Und was haben sie diesen Freitag vor?
Irini Hajiroussou, 24 studiert an der Sciences Po in Paris. Wir studierten zusammen in Spanien: »Ich werde Freunde zum Abendessen sehen und dann etwas trinken gehen, vielleicht auf dem Place de la République.«

»Alles, an was ich dachte, waren Schusswechsel in amerikanischen Kinofilmen. Es war ein Freitag wie jeder andere auch, mein Freund und ich gingen ins Kino im Zentrum und wir waren ein bisschen aufgeregt, den neuen James Bond zu sehen. In der Mitte des Filmes fing mein Telefon plötzlich an, ununterbrochen zu vibrieren. Ich sah nach und hatte Dutzende verpasste Anrufe von meiner Familie und Freunden, so fand ich es heraus. Die meisten Leute fingen an das Kino zu verlassen oder nach draußen zu gehen, um ihre Familien anzurufen. Mein Freund und ich, wir waren uns nicht sicher, was wir tun sollten, ob es drinnen oder draußen sicherer wäre. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Polizei noch nicht eingegriffen, und die Attentäter waren immer noch unterwegs. Ich dachte, wenn sie einen Konzertsaal angreifen, dann vielleicht auch ein Kino. Wir gingen und liefen zur Wohnung meines Freundes, schalteten sofort die Nachrichten ein und sahen, dass es 30 Tote gab. Wir gingen gegen 1.30 Uhr ins Bett und als ich 6.30 Uhr am nächsten Morgen aufstand, stellte ich fest, dass es fast 130 Tote waren. Trotzdem werde ich diesen Freitag mein Leben ganz normal weiterführen, Freunde zum Abendessen sehen und dann etwas trinken gehen, vielleicht auf dem Platz der Republik – viele unserer Lieblingsbars sind dort. Wir sind geschockt und verängstigt, aber das Leben muss weitergehen.«
Yannic G., 24, studiert seit September in Paris Management. Wir kennen uns aus einer gemeinsamen Projektarbeit: »Ich schaue mir gemütlich einen Film an.«

» Ich war im Stade de France. Als meine Freunde kurz nach der Halbzeit des Fußballspiels Deutschland gegen Frankreich die ersten Meldungen der Anschläge auf ihren Handys empfingen, gab es für mich schnell nur noch einen Gedanken: nichts wie weg hier! Ich hatte Glück und konnte das Stadion zügig verlassen und zusammen mit vielen anderen in Richtung S-Bahn rennen. Auch in Paris musste ich nicht lange warten und stieg in das erste freie Taxi. Einordnen konnte ich die schrecklichen Stunden erst in den Tagen darauf. Frankreich ist immer noch erschüttert und tief verunsichert. Es sollte ein schöner Fußballabend in Paris werden, auch wenn wir schon vor Spielbeginn ein mulmiges Gefühl hatten, weil es ein Großereignis war, mit viel Symbolkraft – mitten im Herzen vom sowieso schon gefährdeten Frankreich. Dass an diesem Abend wirklich etwas passiert, hatte vorher allerdings keiner von uns erwartet. Umso schlimmer war es, als wir während des Spiels die lauten Explosionen hörten und sie überhaupt nicht einordnen konnten. Ich freue mich schon auf meinen nächsten ruhigen Freitag – den werde ich zuhause gemütlich mit einem Film oder mit meinen Unimaterialien genießen.«
David Chauvin, 27, promoviert in Physik. Seit unserer Erasmuszeit in Spanien sind wir gute Freunde: »Ich gehe feiern.«

»Von den Attentaten habe ich per WhatsApp von Freunden erfahren, die in einer Bar ganz in der Nähe der Schießerei waren. Der Inhaber hatte seine Kunden und Passanten drinnen versammelt und die Jalousien aus Eisen heruntergelassen. Ich hielt mich über ihren Zustand auf dem Laufenden und habe gleich auch weiteren Freunden in dem Viertel geschrieben, um zu wissen, ob sie unversehrt und in Sicherheit waren. Den Abend verbrachte ich Zuhause damit, Nachrichten zu verfolgen. Ich würde sagen, dass wir Pariser nach dem Attentat zwar Angst vor einem weiteren haben, aber selbstbewusst sind, vereint durch unsere Werte und unseren westlichen Lebensstil. Ich beobachte am Morgen zunehmend Leute, die mit dem Auto zur Arbeit fahren und ebenso, wie viele Menschen Solidarität und Kraft bekunden. Viele stellen Kerzen in ihre Fenster, hören laut Musik in ihren Wohnungen, gehen weiter abends aus, um zu zeigen, dass das Leben weitergeht. Freitagabend werde ich deswegen wieder feiern gehen, um den Terroristen zu zeigen, dass sie weder die geringste Chance haben unsere Lebensart zu beeinträchtigen, noch unsere Politik gegenüber Daesch zu verändern. Trotzdem bin ich skeptisch hinsichtlich des schnellen Gegenschlags von Hollande mit seinen Luftangriffen auf Raqqa und misstrauisch gegenüber der zunehmenden Gewalt und kriegerischen Politik. Das erinnert mich auf eine befremdliche Weise an den Diskurs und die Politik G.W. Bushs nach 9/11, der die Amerikaner in den Krieg gegen den Irak geführt, die Region komplett destabilisiert und neue terroristische Bewegungen hervor gebracht hat.«
Martin Zabel, 26, studiert Arabistik in Leipzig, ein Freund aus meinem Freundeskreis: »Ich bin wieder Zuhause in Leipzig.«

»Nach einem langen Tag auf den Fotomessen FotoFever und Paris Photo ging ich mit meiner Freundin in unsere Unterkunft in der Rue du Louvre. Den Sirenen schenkten wir kaum Beachtung, erst die vielen Vibrationen unserer Telefone verwunderten uns. Als wir begriffen, was los war, fingen wir sofort an, alle möglichen Nachrichtenapps nach Informationen zu durchsuchen. Für weitere Eindrücke setzten wir uns auf den Balkon und beobachteten: Polizeiautos rasten entlang der Rue Rivoli, es gab Berichte von neuerlichen Schusswechseln am Louvre, Palais Royal. Es herrschte eine große Verwirrung auf den Straßen und der Verkehr nahm rapide ab, für einen Freitagabend ein ungewöhnliches Bild. Und selbst Wohnungslose, die in den Eingängen des „Louvre des Antiquaires“ schlafen, suchten rasch nach einem sichereren Provisorium in den Seitenstraßen. Seit Jahren beschäftige ich mich mit salafistischem Extremismus, erlebte Anschläge schon in Kairo und fand mich in Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern wieder. Doch diese Anschläge, das Erschießen von Menschen, die einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren, brachten Sorge in mir auf. Am Tag nach dem Anschlag arbeiteten wir trotzdem ganz normal weiter. Außer, dass um uns herum vieles evakuiert wurde und Menschen die Messe vorsichtiger zu betraten schienen, merkten wir nicht viel im abgesperrten Bereich. Als die Messe am Sontag offiziell beendete wurde, atmeten wir auf. Gleich am Montag zog es uns aus der Stadt in die Normandie, um noch einige entspannte Tage zu verbringen. Freitag sind wir beide wieder Zuhause, sie in Moskau, ich in Leipzig.«
Meine Cousine Kathrin B., 33, arbeitet seit sieben Jahren in Frankreich in der Werbeartikelbranche: »Ich werde mein Übliches machen: Ausruhen, ins Kino oder Restaurant gehen.«

»Ich war auf dem Weg zur Geburtstagsfeier eines Freundes, gerade am Bahnhof in Paris angekommen, als die Attentate anfingen. Freunde schrieben uns SMS, am Bahnhof wurde es durchgesagt. Am Taxistand waren fast 150 Menschen… aber kein Taxi. Es war der Horror. Ich bin oft in den Bars, wo die Attentate stattfanden. Der Geburtstag sollte eigentlich auch in einer Bar stattfinden. Über Umwege sind wir mit den Metros, die fuhren, zu unserem Kumpel gefahren. Bis 3 Uhr haben wir alle zusammen Nachrichten geschaut, um zu sehen, was draußen passiert. Meine Freunden geht es allen gut, ich bin erleichtert. Als wir am Samstag durch die Stadt gelaufen sind, war sie wie ausgestorben, sogar die Champs Elysée war total leer, viele Geschäfte geschlossen. Wir hatten ein Escape Game geplant und das haben wir auch gemacht. Sonntag bin ich wieder nach Hause gefahren, ich lebe nach einigen Jahren in Paris mittlerweile in der Nähe von Avignon und arbeite nur noch ab und an in unserem Pariser Büro in der Nähe des Place de République, nur 500 Meter von den Attentaten entfernt. Ich bin geschockt, aber mein Alltag hat sich nicht verändert. Eine Kollegin in Paris hat mir erzählt, dass viele Leute total verängstigt seien. Ich werde heute mein Übliches für einen Freitagabend machen: Ausruhen, ins Kino oder Restaurant gehen.«
Jonathan Fasel, 31, arbeitet im Presseteam der Europäischen Strombörse. Bevor er 2011 nach Paris zog, lernten wir uns in Leipzig kennen: »Ich gehe wieder auf ein Bier mit Freunden.«

»Ich war mit einem französischen Freund im Stadion. Die Explosionen, vor allem die zweite, gingen durch Mark und Bein und hallten im Stadion wider. Dass da Selbstmordattentäter am Werk sind, das kam mir trotzdem nicht in den Sinn. Dann aber in der zweiten Hälfte die Textnachrichten, die Anrufe. Das Spiel wurde zur Nebensache. Wie kommen wir sicher nach Hause? Was genau ist los? Alles war diffus. Auf dem Rückweg noch eine Massenpanik, als hunderte zurück ins Stadion rennen und rufen, da vorne würde geschossen. Da waren die Knie wirklich weich. Das Leben ist seitdem gedämpft und angespannt. Anders als bei den Anschlägen auf Charlie Hebdo war die Gewalt diesmal willkürlich. Es hätte jeden treffen können. Meine Freunde und ich waren vor einiger Zeit im Bataclan, ich bin jede Woche mehrmals im 10. und 11. Arrondissement. Ich bin so froh und dankbar, dass es keinen meiner Freunde erwischt hat. Die Erschütterung der Bomben zu spüren, hat dennoch meine Sicht verändert. Ich bin wütend. Am Samstagmorgen habe ich mich in meiner Wohnung verkrochen – wie viele andere auch. Aber ich lasse mir mein Leben nicht nehmen, besonders nicht meine Freude am Leben. Am Freitag gehe ich wieder auf ein Bier mit Freunden.«
Stefanie Vollmann, 26, ist Studentin und freiberufliche Videojournalistin und eine Freundin einer Freundin: »Ich gehe auf eine WG-Party und schmeiße am Samstag selbst eine Feier.«

»Seit ich am Freitag, den 13. November 2015, die Bilder im Fernsehen gesehen habe, stehen meine Gedanken nicht still – und trotzdem ist mein Kopf leer. Paris ist meine Stadt, zweimal habe ich dort gelebt, bin jede Metrostation zu Fuß abgelaufen, um jede Ecke der Stadt zu erkunden. Ich habe mit vielen Menschen gesprochen, einfach so und für meine Masterarbeit: ein filmisches Portrait der Stadt anhand der Menschen. Le Petit Cambodge, einer der Anschlagsorte, keine 200 Schritte von meiner damaligen Wohnung entfernt – ein Ort vieler Geschichten und bekannter Gesichter, ein kleines Zuhause im großen Paris. Der Terror wird nicht schlimmer, wenn man selbst Opfer und Orte kennt, aber die Bilder in meinem Kopf bunter, die Schreie lauter. Meine Gedanken laufen sie entlang, die Rue Alibert, immer und immer wieder. Dabei denke ich nicht: »Was wäre, wenn meine Freunde, wenn ICH dort gewesen wären?« Aber ich sehe Bilder, die ich nicht gesehen habe – und die reißen Löcher in mein Herz. Doch daneben gibt es ein zweites, ebenso starkes Gefühl: Ich schäme mich. Für meine Ignoranz gegenüber Beirut, Suruç, Ankara, dem Sinai-Absturz. Ich habe keine Angst vor den Terroristen, will mein Leben nicht von ihnen bestimmen lassen, weiter auf Konzerte gehen und in Metropolen reisen – in mein Paris, meine Freunde treffen – aus aller Welt. Vereint bleiben. Wie diesen Freitag auf eine WG-Party gehen und am Samstag selbst eine große Feier schmeißen. Aber etwas ist anders: Beim Auftakt-Kopfschuss vom Sonntagstatort zuckte ich zusammen. Und ich spüre, wie langsam auch die Bilder aus dem fernen Syrien, aus Nigeria und dem Rest der Welt an Farbe gewinnen.«