Politik Im Mutterschutz

Politik: Im Mutterschutz
Am vergangenen Samstag ist die ukrainische Oppositionspolitikerin Julija Timoschenko aus der Haft entlassen worden. Wenige Stunden danach rief sie die Demonstranten auf dem Maidan-Platz in Kiew dazu auf, ihre Proteste fortzusetzen. Hinter Timoschenko stand ihre Tochter Jewgenija – die NEON-Redakteurin Ann-Kathrin Eckardt letztes Jahr traf, als sie noch für die Freilassung ihrer Mutter kämpfte.

Schon wieder das Handy. Jedes Mal, wenn es klingelt, schlägt Jewgenijas Herz ein bisschen schneller. Es beruhigt sich wieder, wenn sie das Blackberry in ihrer Louis-Vuitton-Tasche gefunden hat und »Oma« auf dem Display steht. Es beginnt zu rasen, wenn es eine von »den Frauen« ist. So wie jetzt. »Die Frauen« sind ein Dutzend ältere Damen, die vor dem Krankenhaustor in Charkow ausharren. Bewacht von etwa fünfzig Polizisten, liegt hier hinter vergitterten Fenstern Jewgenijas Mutter, Julia Timoschenko, die Ikone der orangenen Revolution von 2004. Internet und Telefon sind ihr verboten. Doch den Frauen vor dem Tor entgeht nichts. Jede Beobachtung, jedes Gerücht geben sie sofort an die Tochter weiter. Die Hiobsbotschaft dieses Mal: Julia Timoschenko soll heute zurück ins Gefängnis. In drei Tagen soll ein zweiter Prozess wegen Steuerhinterziehung gegen sie beginnen.

Als sie den Anruf der Frauen erhält, ist Jewgenija an diesem Tag Ende Juli auf dem Weg vom Flughafen ins Krankenhaus. Jede Woche fliegt sie von Kiew ins 500 Kilometer entfernte Charkow im Osten des Landes. Jewgenija und die beiden Verteidiger sind zurzeit die einzigen Nichtmediziner, die zur wohl bekanntesten Patientin der Welt dürfen. Hat Viktor Janukowitsch, der amtierende Präsident der Ukraine, gehofft, mit dem Prozess seine größte Rivalin loszuwerden, hat er die Rechnung ohne deren Tochter gemacht. In Talkshows und Interviews zieht die 32-Jährige seit einem Jahr für ihre Mutter zu Felde, frühstückt mit Hillary Clinton, spricht mit Angela Merkel oder vor der Europäischen Volkspartei.

Ihre beste Waffe: Sie kann, was von den Regierenden in Kiew kaum einer kann – fließend Englisch. »Eigentlich war das alles gar nicht so geplant«, erzählt sie am Tag vor ihrem Besuch in Charkow.
Sie sitzt auf einer beigefarbenen Ledercouch im Büro ihrer Mutter, hinter ihr der große Schreibtisch der Mutter mit dem leeren Stuhl der Mutter. Im Flur und im Vorzimmer hängt an jeder Wand das Gesicht ihrer Mutter. Die Mutter ist überall und doch nirgendwo. Fast als wäre sie tot.

Jewgenija also erzählt, dass sie zu Beginn des ersten Prozesses nicht mal ins Gerichtsgebäude gehen wollte. Stattdessen wartete sie mit Anhängern davor. »Ich konnte meine Mutter einfach nicht da sitzen sehen.« Erst nachdem Julia Timoschenko am 5. August 2011 während des Prozesses festgenommen wurde, zwang sie sich, ihr an den nächsten Verhandlungstagen beizustehen. Die Bilder, wie sie im Gerichtssaal hinter der Angeklagten sitzt, den Kopf auf deren Schulter gelegt, gingen um die Welt. »Ich hatte am Anfang die Hoffnung, dass meine Mutter bald wieder freikommt«, sagt Jewgenija. Sie wirkt müde, aber vielleicht ist es nur ihr melancholischer Ausdruck. 2001 war ihre Mutter schon einmal im Gefängnis gewesen.

Damals hatte man die Vorwürfe nach sechs Wochen fallen gelassen. Dieses Mal nicht. Im vergangenen Oktober wurde Julia Timoschenko zu sieben Jahren Haft und 142 Millionen Euro Schadenersatz verurteilt, weil sie als Ministerpräsidentin 2009 ein überteuertes Gasabkommen mit Putin abgeschlossen und dabei einen ukrainischen Zwischenhändler (und Unterstützer des jetzigen Präsidenten) ausgeschaltet haben soll.

Im Westen löste das Urteil eine Appelllawine aus. Die EU und die USA kritisierten das Verfahren gegen die 51-Jährige als politisch motiviert. Denn nicht nur sie, sondern auch etwa ein Dutzend weitere Mitglieder der orangenen Regierung sind inzwischen wegen »Amtsmissbrauchs « in Haft. Zwar sagte der ukrainische Präsident erst kürzlich dem »Time«-Magazin, er wolle Timoschenko auch gerne frei sehen, habe aber »keine Instrumente«, um die Justiz zu beeinflussen. Doch es gilt als offenes Geheimnis, dass Gefolgsleute Janukowitschs die Generalstaatsanwaltschaft kontrollieren. Und fast alle Medien des Landes. Nachdem er 2010 zum Präsidenten gewählt worden war, verwandelte Janukowitsch das semi-präsidentielle System kurzerhand in ein präsidentielles. Im Korruptionsranking ist das Land acht Jahre nach der friedlichen Revolution auf Platz 152 gerutscht, hinter Uganda.

Doch auch Julia Timoschenko ist in der Ukraine keine Nationalheilige. Bei einer Umfrage im vergangenen August unterstützten 36 Prozent der Befragten die Einleitung des Strafverfahrens gegen sie, 37 Prozent sprachen sich dagegen aus. »Die Leute sind skeptisch gegenüber Timoschenko «, sagt der deutsche Politologe Andreas Umland, der an der Kiew-Mohyla-Akademie lehrt. Nach ihrer Wahl zur Ministerpräsidentin 2005 und 2007 hielt sie Reformversprechen nicht, da sie sich mit ihrem ehemaligen Weggefährten, Präsident Juschtschenko, zerstritten hatte. Hinzu kam die Finanzkrise. Das monatliche Durchschnittseinkommen der Ukrainer beträgt zurzeit 205 Euro. Im Gegensatz dazu steht Timoschenkos Reichtum. Dass Politiker im Geld schwimmen, ist in einem Land, in dem das Abgeordnetenhaus auch »Parlament der Millionäre« genannt wird (300 der 450 Parlamentsmitglieder sind angeblich Dollarmillionäre), zwar nichts Ungewöhnliches.
Dass eine Frau dieser Oligarchenwelt angehört, allerdings schon.

Im wilden postsowjetischen Kapitalismus der Neunziger hatte Julia Timoschenko, Tochter einer alleinerziehenden Fabrikarbeiterin, den Aufstieg von der Unternehmerin zur schwerreichen »Gasprinzessin« geschafft. Wie anständig ihre Karriere war, ist schwer zu beurteilen. »Meine Mutter hat ihre Fähigkeiten einfach richtig genutzt«, sagt Jewgenija. »Richtig legal war damals nichts«, sagt Andreas Umland. Im gesamten postsowjetischen Raum habe es keine stabile Gesetzeslage geben. »Die Gesetze waren alle veraltet, sie passten nicht mehr in die Zeit.« Als ihre Mutter reich wurde, war Jewgenija in der Pubertät. Wie viele andere Kinder in der Ukraine war sie vorwiegend bei den Großeltern aufgewachsen. Julia und ihr Mann Olexander waren Erstsemester an der Universität in Dnjepropetrowsk, als ihr einziges Kind zur Welt kam. Mit vierzehn schickten sie Jewgenija auf ein Internat nahe London. Zwei Jahre später entschloss sich Julia Timoschenko, in die Politik zu wechseln – um Immunität zu erlangen, sagen ihre Gegner. »Weil die Regierung etwas von ihrer Firma abhaben wollte«, sagt die Tochter. »Meine Mutter hat gesehen, wie betrügerisch das System war, und wollte die Korruption bekämpfen.« Trotzdem war Jewgenija damals gar nicht begeistert vom Entschluss der Mutter. 1999 gründete diese ihre eigene Partei. Jewgenija blieb auf Abstand. An der angesehenen London School of Economics studierte sie Politik, Wirtschaft und Philosophie. Mutter und Tochter sahen sich selten.

Erst 2004, in den Tagen der orangenen Revolution, traute sich Jewgenija in den Osten, in die Welt ihrer Eltern zurück. »Endlich tat sich etwas. Ich hatte das Gefühl, dass es der richtige Zeitpunkt war.« Große öffentliche Auftritte mit ihrer Mutter mied sie jedoch weiter. Nur einmal machte sie eine Ausnahme: als sie 2005 Sean Carr heiratete. Den elf Jahre älteren tätowierten Rockmusiker hatte sie ein Jahr zuvor im Strandurlaub kennengelernt.

Im vergangenen Jahr ließen sich der Rocker und Jewgenija scheiden. Ihre ganze Aufmerksamkeit widmet sie jetzt ihrer Mutter. Zwei, drei Mal pro Woche steigt sie ins Flugzeug, um sich mit Politikern, Menschenrechtlern oder Journalisten zu treffen. Ihr italienisches Restaurant Ciro’s Pomodoro in Kiew hat sie vermietet, für ihre Kinder-Charity-Arbeit bleibt keine Zeit, ihre Freunde sieht sie selten. Manchmal schafft sie es noch, mit ihren vier Hunden – einem Husky, einem Schäferhund und zwei Straßenhunden – spazieren zu gehen.

Ob sie auch Politikerin werden wolle, fragen Journalisten sie in jedem Interview. Und jedes Mal schüttelt Jewgenija den Kopf. »Ich kenne die Politik, seit ich ein Teenager bin. Ich weiß, wie viele Opfer man dafür bringen muss und was für einen starken Willen und welches Durchhaltevermögen man braucht. Ich habe das nicht, meine Mutter schon.« Anders als früher ist sie jetzt stolz auf ihre Mutter. »Mama, du bist sehr stark. Wahrscheinlich viel stärker als Papa, Oma und ich zusammen«, schrieb sie ihrer Mutter in einem Brief. Doch auch wenn sie nie in die Politik wollte, ist sie jetzt mittendrin. Sie ist eine Lobbyistin ihrer Mutter. Es ist der einzige Weg, den sie sieht, um ihr zu helfen. Und das macht sie raffiniert, da steht sie ihrer Mutter in nichts nach. »Wahrscheinlich hat sie schon mehr Interviews als ihre Mutter gegeben«, sagt Natascha, Jewgenijas Pressefrau. »Ich bin ja auch die Einzige der Familie, die für sie kämpfen kann«, sagt Jewgenija auf der Ledercouch, während sie den fünften Anruf wegdrückt. Der Vater ist im tschechischen Exil, die Oma krank. Man spürt, wie dieser Kampf an ihr zehrt. Jeden Tag, sagt Jewgenija, wünsche sie sich, ihre Mutter wäre keine Politikerin. Denn die Kraft, die sie an ihrer Mutter bewundert, macht ihr gleichzeitig Angst. Sie weiß, dass Julia Timoschenko lieber im Gefängnis sterben wird, als der Politik der Rücken zu kehren oder ihren Erzfeind Janukowitsch um Gnade zu bitten. Auch den ukrainischen Ärzten traut die Mutter nicht. Das hat gute Gründe: Ihr ehemaliger Innenminister Jurij Luzenko kam als gesunder Mann ins Gefängnis. Inzwischen soll er an Hepatitis C und einer Leberzirrhose leiden.

Und natürlich hat sie die Dioxinvergiftung ihres früheren Mitstreiters Juschtschenko nicht vergessen, die 2004 mitten im Präsidentschaftswahlkampf sein Gesicht entstellte. Erst seit es im Frühjahr zwei Ärzten der Berliner Charité gelungen ist, zu Julia Timoschenko vorgelassen zu werden, lässt sie sich behandeln. Die deutschen Mediziner diagnostizierten einen schweren Bandscheibenvorfall. Im Januar lag sie trotz Überwachungskamera zwei Stunden ohnmächtig in ihrer Zelle. Die Tochter erfuhr erst drei Tage später aus der Zeitung davon. Jewgenija ist deshalb auf alles gefasst, als sie an diesem Tag im Juli im heruntergekommenen Treppenhaus des Hospitals in den neunten Stock steigt – auch darauf, dass die Mutter nicht mehr da ist. Doch vor der Stationstür sitzt wie immer ein Polizist. Jewgenija atmet auf, drückt ihrem Bodyguard ihre Tasche in die Hand, klingelt. Schlüsselrattern. Das Gitter hinter der Tür wird aufgesperrt. In einem gut bewachten Besucherraum haben Mutter und Tochter nun drei Stunden Zeit zum Reden.
Meistens, sagt Jewgenija, flüstern sie nur.

Als sie aus dem Krankenhaus kommt, wird Jewgenija von Journalisten umringt. »Wie geht es Ihrer Mutter? Ist sie verhandlungsfähig?« Routiniert antwortet sie auf Russisch: »Ziemlich schlecht. Sie hat einen starken Ausschlag. Ihre Behandlung wurde unterbrochen, sie bekommt keine Schmerzmittel mehr.« Noch im Auto ruft sie den Charité-Chef Karl Max Einhäupl an, schildert die neue Lage und bedankt sich überschwänglich für seine Hilfe. Denn auch die deutschen Ärzte stehen mittlerweile in der Kritik. Sie würden mit der Simulantin unter einer Decke stecken, wirft ihnen die ukrainische Regierung vor. Nach der Fußball- EM, als die Ukraine im Fokus der Welt stand, hat sich der Ton wieder verschärft. Timoschenkos Verteidiger wurde kürzlich auf der Straße mit Desinfektionsmittel attackiert. Jewgenija verreist seitdem mit einem Bodyguard.

Ende Oktober finden in der Ukraine Parlamentswahlen statt. Die leise Hoffnung, dass ihre Mutter dann wieder frei und gesund ist, hat Jewgenija nicht aufgegeben. Bis dahin wird sie weiter nachts von ihr träumen. Wenigstens für ein paar Stunden ist ihre Mutter dann zu Hause.

Dieser Text ist in der NEON-Ausgabe vom September 2012 erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben ab September 2013 gibt es außerdem auch digital in der NEON-App.