Im Sommer vor zehn Jahren erschien die allererste NEON-Ausgabe. Auf dem Titel stand »Die 100 wichtigsten jungen Deutschen«. Und: »Es gibt noch Hoffnung!« Wir stellten damals junge Talente aus Politik, Kultur, Wissenschaft und Sport vor, denen die Zukunft gehörte. An die wir glaubten.
Jetzt, im Sommer 2013, erscheint die Jubiläums-Ausgabe von NEON. Auf dem Titel steht: »Jetzt sind wir dran!« Und im Heft schreiben wir: »Unser Land braucht einen Personalwechsel. Und zwar mit diesen zehn Köpfen.« Wir stellen wirklich spannende, kluge und mutige junge Menschen aus Politik, Kultur, Wissenschaft und Sport vor, denen die Zukunft gehört. An die wir glauben. Von denen wir uns erhoffen, dass sie das angestaubte Personal in den Talkshows, auf den Regierungs- und Trainerbänken dieses Landes ersetzen können.
Aber was ist in den letzten zehn Jahren geschehen? Haben die hundert jungen Deutschen aus dem ersten NEON-Heft versagt? Haben wir damals an die falschen Nachwuchsstars geglaubt? Zehn Jahre später fordern wir wieder: Lasst die Jungen endlich an die Macht! Warum?
In einer zehnteiligen Serie berichten wir hier im neuen NEON-Redaktionsblog, was aus den Talenten von 2003 geworden ist. Man erkennt schnell: Das war eine interessante Hunderter-Liste damals. Wir hatten ein ziemlich gutes Gespür. Nehmen wir nur mal ein paar Namen: Daniel Kehlmann, Charlotte Roche, Dirk Nowitzki, Philip Rösler, Nora Tschirner. Zwei Megabestsellerautoren, der erste deutsche NBA-Gewinner, ein Bundesminister, eine Tatort-Kommissarin. Viele von der ersten NEON-Liste haben richtig Karriere, sich einen Namen gemacht. Sie haben etwas verändert, oder wenigstens: sich ihren Traum erfüllt.
Manche der Hoffnungsträger von 2003 haben nicht alles erreicht, was wir ihnen zugetraut haben (Michael Ballack, schrieben wir, würde die Nationalmannschaft zum Weltmeisterschaftstitel 2006 führen…), manche nerven nur noch (Oliver Pocher), manche haben sich eher zurückgezogen (die tolle Julia Hummer etwa), sind heute doch nur einem kleinen Publikum ein Begriff (Anneke Kim Sarnau, Tim Eitel) – oder haben eben ungestört im Stillen wichtige Arbeit getan, wie es für die damals porträtierten Wissenschaftler und Überzeugungstäter zu erwarten war. Auf jeden Fall haben diese hundert jungen Menschen aus dem Jahr 2003 in den letzten zehn Jahren viel erlebt und bewegt.
Und dennoch stellt NEON-Redakteur Jakob Schrenk in der Titelgeschichte der Jubiläums-Ausgabe fest:
»Im Herbst 2013 habe ich oft das Gefühl, als hätte ich beim Weg zur U-Bahn eine Zeitmaschine aktiviert und wäre zurückgebeamt worden in eine Epoche, in der es weder Internet noch Euro gab und wir unsere Musik auf Tonbandkassetten speicherten. Auf den Wahlplakaten posieren politische Fossilien, die schon in der Ära Helmut Kohl gegeneinander gekämpft haben: Wolfgang Schäuble (70), Rainer Brüderle (68) und Jürgen Trittin (59), der sich ›Jürgen‹ nennen lässt und im Wahlkampf Tischkicker spielt. Schalte ich den Fernseher ein, sagt mir Peter Scholl-Latour (89), was schiefläuft in Ägypten. Alice Schwarzer (70) kämpft um die Rechte, die Frauen und Mädchen noch verwehrt werden, Thilo Sarrazin (68) kümmert sich um Ausländer und ausländische Währungen (Euro). Die Quadratur des Greises. Im Schnitt sind die Deutschen übrigens 44,5 Jahre alt. Das zweitälteste Volk der Welt (nach Japan) wird regiert von noch viel älteren Moral- und Meinungsmachern.«
Die Talente von 2003 sind also nicht die Chefs von 2013 und man muss sich nur eine Frau wie Ramona Pop als Beispiel nehmen, um zu verstehen, warum das so ist. Pop war 2003 25 Jahre alt, für die Grünen Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. Wir schrieben damals über sie: »…abgeklärt wie ein Routinier. So könnte die Zukunft nach Claudia Roth aussehen.« Das Problem: Claudia Roth ist noch immer die Gegenwart. Noch immer das Gesicht dieser Partei, die im vergangenen Jahrzehnt zum Mainstream wurde. Ramona Pop ist heute immerhin Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus. Claudia Roth, 58, wirft sich derweil ungestört bunte Schals um den Hals und tanzt zu Weltmusik, als sei das der Beat der Stunde. Jakob Schrenk schreibt in der neuen Titelgeschichte: »Jugendwahn bedeutet ja nicht, dass die Jugend die Macht übernimmt, sondern dass die Alten so tun, als wären sie jung – und den nachfolgenden Generationen dadurch das Alleinstellungsmerkmal stehlen.«
Darum geht es: Die Jungen von 2003 sind auch die Jungen von 2013, obwohl manche von ihnen schon auf die Fünfzig zugehen. »Bully« Herbig ist heute Mitte vierzig, aber noch immer für die Unvernunft im deutschen Erfolgskino zuständig. Über den glücklosen FDP-Wirtschaftsminister Philip Rösler spottete man, er sei in seinem jugendlichen Alter eben überfordert mit der Macht. Rösler ist jetzt 40. Eines der bekanntesten Gesichter der Generation NEON ist sicherlich Sarah Kuttner. 2003 hatte sie sich gerade für den Playboy ausgezogen, was sie heute sicherlich nicht mehr machen würde. Sie ist ein Star geworden, aber im Fernsehen ist sie nur im Jugendspartenprogramm von ZDFneo zu sehen und ihre Bücher handeln von den Schwierigkeiten, erwachsen zu werden. Kuttner ist übrigens 34.
»Eigentlich sollten wir erwachsen werden« stand 2003 auf dem ersten NEON-Titel. Wir haben bald aufgehört, diesen Slogan auf das Heft zu drucken, denn er könnte missverstanden werden. Erwachsen sind wir längst, ob wir nun 20 sind, 30 oder 40. Wir übernehmen Verantwortung, mindestens für uns selbst. Was wir damals vielmehr meinten: Erwachsen zu sein heißt heute einfach nicht, angekommen zu sein. Wir haben nicht mehr die eine Liebe, das erste Auto, das Haus, den Job für immer. Es geht immer weiter. Das ist schön. Das ist nicht schlimm. Schlimm ist es nur, wenn es für uns alle irgendwann nicht mehr weitergeht, weil an den Schaltstellen dieses Landes Menschen sitzen, die selbst noch als jung gelten, obwohl sie unsere Großeltern sein könnten. Es geht nicht darum, dass die Alten Platz machen müssen. Es geht darum, dass die Jungen ihren Platz genauso einfordern. Dafür hat NEON 2013 zehn laute Stimmen gefunden, die im neuen Heft vorgestellt werden. Und schaut man sich die Liste von 2003 an, merkt man: Wir haben so viele Experten in unserer Generation, so viele, kluge und gute Leute, dass wir den altbekannten Talkshow-Predigern wirklich nicht mehr zuhören müssen. Eigentlich sind wir längst erwachsen. Deshalb: Schluss mit der Opakratie!
Übersicht: Die Top 100 auf einen Blick