Text: Zacharias Zacharakis | Illustration: Frank Höhne
Neulich sehnte ich mich für einen kurzen Moment nach der Zeit zurück, als die Europäische Union noch ein langweiliges, einigermaßen abstraktes Konstrukt war, Brüssel nur in Erscheinung trat, wenn es um irgendein Glühbirnenverbot ging, und die gemeinsame Währung zu funktionieren schien. Ich gebe zu, es war schwacher Moment, ich sah gerade wieder streitende Politiker im Fernsehen, Menschen mit Anti-Europa-Schildern auf den Straßen, irgendwo brannten Barrikaden. Ich dachte, wirklich nur für einen Augenblick: Dann macht doch die Grenzen wieder dicht, hisst eure Nationalflaggen, vielleicht war das mit der europäischen Einigung alles nur großes Missverständnis. Und dann dachte ich an Kostas.
Ich habe Kostas vor fünfzehn Jahren in Griechenland kennengelernt, als ich Jahr lang in Thessaloniki als Europäischer Freiwilliger gearbeitet habe, eine Art Zivildienst der EU. Er studierte damals Fahrzeugtechnik, rauchte viele selbst gedrehte Zigaretten und fuhr einen winzigen, mintfarbenen Fiat 500. Kostas erklärte mir, wie Griechenland funktioniert: Wie man sich im Behördendschungel zurechtfindet. Oder wie man sich in einem chaotischen Krankenhaus die Seeigelstachel aus dem Fuß entfernen lässt. Obwohl ich als Kind griechischer Gastarbeiter in Deutschland aufgewachsen bin, wusste ich nicht viel über das Land meiner Eltern.
Kostas wiederum war Deutschland ungemütlicher und dunkler Ort, den er nur aus Erzählungen kannte. Es war schwer, ihn zu überreden, mich in Deutschland zu besuchen. Doch er kam, traf meine Freunde und Kommilitonen und stellte fest: So anders sind die gar nicht. Dass die Studenten sich an der Uni das Rauchen verbieten ließen, konnte er zwar nicht begreifen, doch im Kern wollten wir alle dasselbe: unsere Träume und Ziele verwirklichen.
Kostas wurde dicker Strich durch die Rechnung gemacht, und ich verstehe ihn, wenn er heute laut über die EU schimpft, ganz gleich letztlich die Ursachen der Probleme in Griechenland sind. Während ich weiter die Vorteile der offenen Grenzen und des deutschen Wirtschaftswachstums genießen konnte, verlor Kostas gleich zu Beginn der Krise seinen Job und musste aufs Land ziehen, weil er sich nur dort das Leben leisten konnte. Kostas, der Spezialist Autoelektronik, hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Als ich ihn im vergangenen Winter besuchte, saßen wir in Decken gehüllt im Wohnzimmer, weil das Brennholz knapp war.
Unsere Gespräche haben sich in diesen letzten Jahren verändert: Sie wurden härter, politischer. Ich habe versucht, zu verstehen und zu erklären, warum Angela Merkel sich so sehr auf das Sparen versteift hat. Ich wollte vermitteln. Kostas schrie: »Du kannst viel herumlabern. Dir geht es ja auch nicht an den Kragen.« Wir stritten heftig, und ich weiß nicht, ob diese Freundschaft noch Bestand hätte, wenn wir uns nicht so lange gekannt und dadurch einen tiefen Einblick in die Lebenswelt des anderen bekommen hätten.
Und genau das gibt mir Hoffnung, auch wenn mich jetzt manche vielleicht naiv halten: Ich glaube daran, dass wir gerade die Geburt einer echten europäischen Gesellschaft erleben, weil die Leute erstmals spüren, dass in Brüssel existenzielle Fragen verhandelt werden. Plötzlich geht Europa uns alle an, vielleicht musste es erst zum Totalcrash kommen, damit wir sehen, auf dem Spiel steht.
Ja, es ist notwendig, dass Kostas und ich, dass Angela Merkel und Alexis Tsipras streiten. Nur so entlädt sich die Spannung. Und im besten Falle sind wir Jungen uns einig, dass wir Europa, dessen Zusammenhalt allein von der Haushaltsdisziplin der Mitglieder abhängt, nicht gebrauchen können. Die Idee ist doch viel größer. Die Europäische Union ist bis heute eine ziemlich gut funktionierende Friedensversicherung.
Und sie wird sich weiterentwickeln, solange unsere vielen Millionen kleinen Beziehungen und Freundschaften das ganze brüchige Konstrukt zusammenhalten. Es war klug von der EU, Programme wie Erasmus und den Freiwilligendienst für die Jugend zu schaffen.
Ich bin mir nicht sicher, ob sich Angela und Alexis bewusst sind, wie dicht das Netz der vielen Freundschaften mittlerweile ist aber es ist diese Substanz, die sie immer wieder an den Verhandlungstisch zwingt. Und wir alle sind Teil davon, auch Kostas und ich. Übrigens werden wir bald wieder zusammen ans Meer fahren. Nur den mintfarbenen Fiat gibt es leider nicht mehr.
Zacharias Zacharakis, 34, ist Redakteur bei »Zeit online« und schreibt fast täglich über die Krise. Er hofft, bald wieder andere Geschichten aus Griechenland erzählen zu können.
Dieser Text ist in der Ausgabe 09/15 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte des NEON-Magazins nachbestellt werden. Alle Ausgaben seit September 2013 gibt es auch digital in der NEON-App.