Erinnern Sie sich noch an "Die Fussbroichs"? Die erfolgreiche Serie aus den 90er Jahren porträtierte in insgesamt 100 Folgen das Leben der gleichnamigen Arbeiterfamilie aus Köln-Buchheim. Zu sehen gab es Vater Fred beim Handwerken, Mutter Annemie beim Putzen und Sohn Frank Fussbroich mit seinen wechselnden Freundinnen. Eine Doku-Soap, die ihren Namen auch verdient hat: Ohne Schauspieler, ohne Drehbuch - alles echt. Inzwischen unvorstellbar.
Denn 25 Jahre nach der ersten Ausstrahlung der "Fussbroichs" suchen TV-Zuschauer nach ähnlichen Formaten vergeblich. Das Genre Doku-Soap scheint ausgestorben zu sein. Das liegt nicht zwingend daran, dass die Zuschauer es nicht goutiert hätten - im Gegenteil. Niedrige Produktionskosten bei maximalem Zuschauerinteresse, etwas Besseres konnte den Sendern gar nicht passieren.
Auf "Die Fussbroichs" folgten Sendungen wie "Abenteuer 1900 - Leben im Gutshaus" in der ARD oder das RTL-Erfolgsformat "Notruf". Doch schon bald machten vor allem die Privatsender ein Problem aus: Das wahre Leben kann sehr langweilig sein. Da galt es nachzuhelfen. Zunächst nur ein bisschen, wie bei der "Super-Nanny" oder "Rach, der Restauranttester". Doch mittlerweile haben Schauspieler und Drehbücher die Realität vollständig abgelöst.
Fast ein Drittel des RTL-Programms besteht aus Scripted Reality
Scripted Reality heißt das Zauberwort. Egal ob "Köln 50667", "Achtung Kontrolle! - Einsatz für die Ordnungshüter" oder "Auf Streife" - kaum ein Tag vergeht, in dem nicht dutzende Stunden Fernsehprogramm mit der Pseudo-Ware geflutet werden. Beispiel RTL: Dort besteht fast das gesamte Vormittags- und Nachmittagsprogramm aus der gefälschten Realität. Denn so sieht ein ganz normaler Scripted Reality-Dienstag aus:
Um 9.30 Uhr wird gestartet mit "Betrugsfälle". Dann folgt ab 10 Uhr eine Doppelfolge von "Die Trovatos - Detektive decken auf". Nach einer kurzen Verschnaufpause und dem Mittagsmagazin "Punkt 12" geht’s dann um 14 Uhr mit "Verdachtsfälle" weiter - ganze drei Stunden lang. Weil's so schön ist, folgt dann um 17 Uhr noch eine weitere Folge von "Betrugsfälle". Damit nicht genug. viele Sendungen werden dann im Nachtprogramm wiederholt. Macht stolze sieben Stunden am Tag Scripted Reality, das entspricht fast einem Drittel des gesamten Programms.
Jeder, der einmal krank zuhause war und gezwungenermaßen reinzappte, fragt sich: Wer guckt den Scheiß? Doch die mit Laiendarstellern und billigsten Produktionsaufwänden gedrehten Shows erfreuen sich größter Beliebtheit. In der angeblich werberelevanten Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen erreichen viele Formate einen Marktanteil von 30 Prozent. Werte, wie sie nicht mal der "Tatort" oder Samstagabendshows erreichen. Das ist auch der Grund dafür, warum der Wahnsinn mit immer neuen Shows und Ideen munter weiter geht.
Unklar ist, ob die Zuschauer immer begreifen, dass sie eben nicht die Realität, sondern eine von Autoren ausgedachte Wahrheit zu sehen bekommen. In einer repräsentativen Umfrage des Ipsos-Instituts im Auftrag des ARD-Magazins "Panorama" gaben immerhin 16 Prozent auf einen gezeigten Ausschnitt von "Die Schulermittler" an, die gezeigte Handlung sei echt und nicht für die Kamera gespielt gewesen. 39 Prozent waren sich unschlüssig, 45 Prozent durchschauten das Format (hier die kompletten Umfrageergebnisse).
Zuschauer akzeptieren Manipulation
Es gibt also durchaus einen hohen Anteil an Menschen, die Scripted Reality für echt halten. Viel wichtiger jedoch: Fast die Hälfte aller Zuschauer erkennt die Manipulation - und schaut trotzdem. Sie flüchtet sich ganz bewusst in eine gespielte Fernsehrealität aus konstruierten Fällen. Falsche Polizeistreifen, gefakte Wohnungsinteressenten oder Schummel-Bauern auf Liebessuche - die TV-Macher machen die Welt, wie sie dem Zuschauer gefällt. Wen wundert es da, dass nun auch bei "Newtopia" nachgeholfen wurde? Eigentlich doch niemanden. Die Aufregung ist nur deshalb groß, weil Sat1 dies immer vehement bestritten hatte. Ansonsten haben sich die Zuschauer längst daran gewöhnt, verarscht zu werden. Schlimmer noch, es ist ihnen egal.
Allen, die sich nach der guten alten Realität sehnen, sei gesagt: "Die Fussbroichs" sind auch auf DVD erschienen. Minutenlange Dialoge bei Kaffee und Kuchen vor der Biedermeier-Barock-Schrankwand. Und wer glaubt, die Realität biete nicht genug spannende Unterhaltung, der möge sich die Folge "Der Aufräumer" angucken. Annemie philosophiert über die Viagra-Welle und Rentner Fred dampfreinigt den Teppich. Alles echt. Herrlich.