Ich entstamme einer noblen Linie von Weltklasse-Schläfern. Wenn wir Winnemuths was können, dann: schlafen. Mein Vater muss nur das Wort Pyjama hören, schon döst er weg, und ich habe mich bereits als Kind mächtig beliebt bei meinen Eltern gemacht, indem ich bei Ferienreisen in den Süden noch vor der Autobahnauffahrt eingeschlafen und erst knapp vor dem Ziel wieder aufgewacht bin. (Gelegentlich hat meine Mutter mir einen Spiegel unter die Nase gehalten, um zu kontrollieren, ob ich noch atme.) Seitdem habe ich eine Spitzenkarriere als Schläferin hingelegt, beneidet für mein Talent, unter härtesten Bedingungen zu schlafen, ob im Bus mit Knien unterm Kinn oder auf lecken Luftmatratzen, ob neben startenden Düsenjägern oder schnarchenden Männern. Verzeihung, wenn ich damit prahle, aber man hat ja nicht viel im Leben, auf das man stolz sein kann.
Wie ein Kind, das einfach nicht ins Bett will
Seit einiger Zeit beobachte ich allerdings an mir und vielen anderen, mit denen ich darüber gesprochen habe, das merkwürdige Phänomen der Schlafprokrastination, wie eine Studie der Universität Utrecht es nennt: das mutwillige Hinausschieben des Ins-Bett-Gehens, auch wenn man müde ist und genau weiß, dass man morgen kariert aus der Wäsche gucken wird. (Der bekloppten menschlichen Neigung, Dinge zu tun, von denen man genau weiß, dass sie einem schaden, und solche zu lassen, die einem guttun, hat Utrecht gleich eine ganze Forschungsabteilung gewidmet, das Selfregulation Lab, dem ich mich wahnsinnig gern als Laborratte anbieten würde.)
Schlafprokrastination läuft circa so: Eigentlich wollte man endlich mal vor Mitternacht im Bett sein, es gibt auch wirklich nichts mehr zu tun, im Fernsehen kommt nix, das Buch ist langweilig, man könnte es jetzt einfach mal gut sein lassen und die Augen zumachen – und dann bleibt man doch noch vor dem Laptop hängen und surft ein bisschen sinnlos durch die Nacht. Oder zieht sich auf dem Smartphone die gesamte Facebook-Timeline des Tages rein. Oder guckt doch noch eine Folge der neuen US-Serie, nur eine. Na gut, zwei. Ach was soll’s, drei, jetzt ist es eh schon egal, acht Stunden Schlaf kriegt man sowieso nicht mehr hin. Man verhält sich also wie ein quengeliges Kind, das einfach nicht ins Bett will.
Das 4-2-4-System
Aber gilt das Acht-Stunden-Diktat überhaupt noch in einer postindustriellen Welt, in der die starren Schichtsysteme allmählich erodieren und es gar nicht mehr nötig ist, eine stramme Schlafschicht einzuhalten, um tags drauf wieder fit am Band zu stehen? Müsste man nicht einfach so schlafen, wie es der Körper braucht? Mittagsschlaf und Nickerchen werden ja von Vorndran-Arbeitgebern wie Apple und Google bereits gefördert, wenn nicht gar gefordert, so produktivitätssteigernd und konzentrationsfördernd sind sie.
Meike Winnemuth
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Umgekehrt mehren sich die Forscherstimmen, die die durchgehende Nachtruhe für eine Verirrung der Neuzeit halten. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, so der US-Historiker Roger Ekirch, wurde in zwei Segmenten à vier Stunden geschlafen, mit einer Wachphase von einer bis zwei Stunden dazwischen. In der wurde gebetet, geraucht, gelesen, geschrieben, die Nachbarn besucht. Dieses Schlafmuster deckt sich auch mit den Ergebnissen eines psychiatrischen Experiments aus den Neunzigern, bei dem eine Testgruppe täglich 14 Stunden in totaler Dunkelheit verbrachte. Irgendwann pendelte sich deren Schlaf-Wach-Rhythmus ebenfalls auf ein 4-2-4-System ein. Vielleicht müssen wir das Schlafen also wieder ganz neu lernen. Hier mal eine Siesta, da mal vier Stunden, in der Nacht zwei Stunden arbeiten. Ich fange heute noch damit an. Aber erst mal eine Folge dieser wirklich sensationellen Serie … Okay, zwei.
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