Protokoll "Wie schlimm sich das wirklich anfühlt, kann keiner verstehen"

Die Berliner Bibliothekarin Petra Tismer beschreibt, wie der Schmerz nach und nach ihr Leben eroberte.

Ganz furchtbar war es mit Ende 20, da hatte ich lange Zeit Schmerzen in den Füßen. Sie kamen schubweise, mehrmals am Tag und mehrmals in der Nacht. Mal fühlte es sich an, als würden mir heiße Stricknadeln in die Knöchel gerammt, dann wieder, als würde mir eine Armee von Ameisen in die Füße beißen. Ich wusste nie, wann es kam. Und ich wusste vor allem nicht, warum. Zwar war ich vorher am rechten großen Zeh operiert worden, aber die Schmerzen saßen an anderen Stellen: erst im Knöchel und an der Sohle des operierten Fußes, dann plötzlich auch auf der anderen Seite, am gesunden Fuß. Als hätte sich der Schmerz gespiegelt. Etwas Unheimliches, das ich nicht greifen konnte, schien sich durch meinen Körper zu fressen, wie ein bösartiges Gespenst. Ich dachte, jetzt werde ich verrückt, jetzt bilde ich mir schon ein, dass es wehtut. Ich war einfach mürbe. Ich hatte ja schon Jahre voller Schmerzen im Rücken hinter mir.

Angefangen hatte es schon mit meiner Ausbildung zur Bibliothekarin an der Technischen Universität Berlin. Damals hatten wir noch keine Computer. Wir schrieben jedes Karteikärtchen auf der Schreibmaschine. Buch für Buch tippte ich ein, jeden Tag viele Stunden. Nach ein paar Wochen fühlten sich meine Schultern an wie in einen Schraubstock gepresst, es war ein dumpfer Dauerschmerz. Manchmal fuhr mir auch ein grelles Stechen zwischen die Schulterblätter.

Ich habe das hingenommen, viele andere haben ja auch Schulterschmerzen. Aber eines Tages konnte ich meinen Kopf nicht mehr drehen. Von einem Orthopäden bekam ich Krankengymnastik und immer wieder Spritzen unters Schulterblatt. Auf den schweren, dumpfen Dauerschmerz hatten die gar keinen Einfluss, auf die inzwischen sehr häufigen Stiche nur ganz kurz. Kaum war ich vom Arzt zurück, überfielen sie mich wieder. Und auch die Tabletten, die mir immer wieder verschrieben wurden, halfen kaum.

Der Schmerz gewinnt die Überhand

Es kostete immer mehr Kraft, mich im Job zu konzentrieren. Ständig horchte ich in mich hinein. Wenn der Schmerz nicht so stark war, wurde es ein guter Tag, wenn er stark war, ein schlechter. Wie oft war ich neidisch auf all die Menschen, denen nichts wehtat! Ich stellte mir vor, wie sie im Eiscafé saßen oder ins Kino gingen, während ich stundenlang in Arztpraxen hockte. Ich wollte reisen, Städte angucken oder einfach am Spreeufer entlangschlendern. Stattdessen saß ich zu Hause auf dem Sofa, mit immer noch ziemlich steifem Hals und einem elektrischen Heizkissen im Kreuz.

Nach vielleicht zwei Jahren tauchte ein Hoffnungsschimmer auf: Ich probierte ein Fitnessstudio aus und war begeistert, dass die Schmerzen im Rücken innerhalb weniger Wochen schwächer wurden. Der Schraubstock ließ mich endlich los, ich konnte den Kopf wieder richtig drehen. Abends ging ich oft lange an der Spree spazieren. Auch das tat meinem Rücken gut. Nach den ersten ganz furchtbaren Jahren kam eine Phase, in der ich Kraft schöpfte: Die Schmerzen waren nicht weg, aber gut erträglich, ich hatte sie im Griff. Bis zu der Geschichte mit dem Fuß. Bitte, bitte, nicht schon wieder, war mein erster Gedanke, als es am rechten Ballen wehtat. Doch bald humpelte ich nur noch. Der Arzt stellte fest, dass ich eine Knorpelablösung am Zeh hatte, es musste operiert werden, den Sport konnte ich erst mal knicken. Und nach dem Eingriff ging es dann ja richtig los, mit diesen Fußschmerzen, von denen ich nicht wusste, wo sie herkamen. Rücken, Nacken, da war mir ja immer klar, dass das mit meiner Arbeit zu tun haben könnte. Aber das war jetzt etwas anderes. Und egal, zu welchen Ärzten ich ging, egal, welche Tabletten oder Tropfen ich nahm: Nichts schlug an, es wurde schlimmer.

Ich bekam Panik: Ohne Bewegung würden meine Rückenschmerzen sicher auch bald wieder zuschlagen. Gerade hatte ich die eine Baustelle im Griff, da brach die nächste auf. Abgesehen von der Arbeit ging ich damals kaum noch aus dem Haus, nicht mal mehr in meine geliebten Museen. Nachts kam ich nicht zur Ruhe. Entweder schlief ich wegen des Stechens in den Knöcheln gar nicht erst ein. Oder mir fuhr ein solcher Stich ins Bein, dass ich wieder hochzuckte. Und tagsüber lebte ich wie unter einer Bleidecke: Ich hatte keine Energie mehr, ich sah, dass ich die Kontrolle über die Schmerzen verloren hatte. Ich habe nie versucht, mir etwas anzutun, aber manchmal waren da schon diese Gedanken: Wenn ich sowieso starke Schmerzen habe, kann es nicht so viel mehr wehtun, sich kurz die Pulsadern

Erste Besserung

Irgendwann las ich in der Zeitung von der Schmerzambulanz der Berliner Charité und ging hin. Erst dort erfuhr ich, dass sich der Schmerz bereits in mein Gehirn eingebrannt und regelrecht verselbstständigt hatte. Ich wurde gezielt behandelt, es ging mir dann deutlich besser. So gut, dass ich meinen langjährigen Freund geheiratet habe. Er hat in all den Jahren immer zu mir gehalten. Er hat mitbekommen, dass ich sehr leide. Aber wie schlimm sich das wirklich anfühlt, kann keiner verstehen, selbst er nicht. Mit seinen Schmerzen sitzt man wie auf einer Insel. Man rennt ständig zu Ärzten, und alle fragen: Was hat der Doktor gesagt? Nichts Ernstes, habe ich meist geantwortet. Aber es tut trotzdem wahnsinnig weh. Wer soll das begreifen? aufzuschneiden.

Im Moment bin ich wieder in der Schmerzambulanz in Behandlung. Meine Rückenschmerzen haben mich eingeholt. Aber ich habe gelernt, dass ich sie beeinflussen kann. Am besten wirkt bei mir Ablenkung: Ich verkrieche mich nicht mehr, sondern treffe mich auch bei einer Schmerzattacke abends mit Freunden oder mache einen Spaziergang mit meinem Mann. Dann lässt auch das Stechen zwischen meinen Schultern nach. Es gibt immer noch Tage, an denen ich es kaum aushalten kann. Mir ist bewusst, dass ich mit meinem Schmerz leben muss. Es kostet mich jeden Tag Kraft, gegen den Schmerz die Oberhand zu behalten. Aber ich kann jedem nur raten, genau das zu versuchen.

print
Aufgezeichnet von: Nicole Heißmann

PRODUKTE & TIPPS