WM im Kopfrechnen Von Zahlen besessen

Von Maximillian Grosser, Leipzig
In Leipzig trafen sich die besten Kopfrechner zur Weltmeisterschaft. Sie multiplizierten achtstellige Zahlen und zogen die Wurzel aus sechsstelligen in Sekunden. Zwei Wissenschaftler untersuchten, ob die Mathe-Spezialisten nur besonders schnell sind - oder ob sich ihr Rechnen von dem anderer unterscheidet.

Der Niederländer Willem Bouman ist 68 und sein Gehirn fitter als bei vielen jüngeren Menschen. Problemlos kann er die dritte Wurzel aus einer 18-stelligen Zahl ziehen - ganz ohne Taschenrechner. Seine Faszination für Zahlen wurde schon sehr früh geweckt. Im Alter von drei Jahren konnte er die Uhr lesen, mit acht sprang ihm das Ergebnis einer Multiplikation von zweistelligen Zahlen sofort in den Kopf. "In der dritten Klasse der Primarschule kannte ich alle Multiplikationen von zweistelligen Zahlen." Seitdem hat ihn die Arithmetik nicht mehr losgelassen.

Wenn er heute mit seiner Frau auf Radtouren unterwegs ist, achtet er wenig auf die Natur, die ihn umgibt, sondern zieht lieber die Wurzel aus Telefonnummern, die er auf LKW-Planen entdeckt. Und bei Nummernschildern kommen ihm sofort Faktoren, Wurzeln und Primzahlen in den Kopf. Das schnelle Rechnen des Niederländers hat vor allem ein Fundament: Er kennt alle Quadrate bis tausend und die dritten Potenzen der Zahlen bis hundert. Hinzu kommen Algorithmen, die er teilweise selbst entdeckt hat. Sein logisches Wissen ist enorm, so dass es ihm beim Rechnen vorrangig nicht auf die Geschwindigkeit, sondern auf die Eleganz und die Genauigkeit der Lösung ankommt. Für Bouman ist das Zerlegen von Zahlen ein ähnlicher Automatismus, wie bei Musikern, die aus einem Lied einzelne Töne und Tonleitern heraushören.

Einfach nur schneller?

Solche Leistungen interessieren die beiden Wissenschaftler Frank Dohmas und Kerstin Jost von der Universität Marburg. Auf der Kopfrechnen-WM in Leipzig haben sie das erste Mal Experten getroffen, die schneller als Taschenrechner Ergebnisse liefern. In ihrer Studie wollen sie herausfinden, wie sich das mathematische Denken der Hochleistungskopfrechner von dem anderer Menschen unterscheidet. "Rechnen die Experten genauso, nur schneller oder sind da andere Qualitäten vorhanden", fragt sich Frank Dohmas, wissenschaftlicher Mitarbeiter für klinische Linguistik. Deswegen schauen Dohmas und Jost im ersten Teil des Experiments nach Gemeinsamkeiten: Zeigen die Kopfrechner die gleichen Probleme beim Addieren oder Multiplizieren größerer einstelliger Zahlen wie "normale" Menschen? Haben sie ähnliche Schwierigkeiten beim Wechsel zwischen den Rechenoperationen? Oder lösen sie alle Aufgaben gleich schnell, ohne Verzögerung?

Kopfrechnen-WM

Die Weltmeisterschaft im Kopfrechnen fand am 1.Juli mit 28 Teilnehmern aus 12 Länndern in Leipzig statt. Gewonnen hat der Spanier Alberto Coto, den zweiten Platz belegte der Deutsche Jan von Koningsfeld, Dritter wurde Jorge Arturo Mendoza Huertas aus Peru.

"Im Gegensatz zu normalen Menschen sehen die Kopfrechner viel mehr Eigenschaften in Zahlen gleichzeitig", sagt Dohmas. Dieses Phänomen scheint dem Benutzen von Wörtern ähnlich zu sein. Wie beim Sprechen verschiedene Bilder und Bedeutungen im Kopf entstehen, tauchen bei den Rechnern Wurzeln oder das Ergebnis einer Division auf. "Ob das aber auf das Lösen von komplexen Aufgaben übertragbar ist, ist fraglich", meint Jost, wissenschaftliche Mitarbeiterin für Psychologie. Denn ein Faktenwissen, das schnell abgerufen werden kann, reicht noch nicht aus, um das schnelle Berechnen von komplexen Aufgaben wie der dritten Wurzel einer zwölfstelligen Zahl zu erklären. Für das Speichern von Zwischenergebnissen wird das Kurzzeitgedächtnis gebraucht. "Das scheint bei den Experten weniger limitiert als bei normalen Menschen zu sein", schlussfolgert Psychologin Jost.

Kopfrechner sind Individualisten

"Es ist ein Mythos, dass das Gedächtnis wichtig ist", meint der Kernphysiker Robert Fountain aus Großbritannien. Er hat die Kopfrechnen-WM in Leipzig schon zweimal gewonnen. Fountain ist wie Willem Bouman ein Generalist im Rechnen. Er versucht in allen Kategorien gut zu sein. Seine Faszination gilt den mathematischen Theorien, die er vor allem durch sein Studium kennt und gern kreativ gebraucht. Der Brite hat zwar auch wie die anderen Kopfrechner in Leipzig ein großes Zahlenwissen. Aber sein schnelles Rechnen hat einen anderen Hintergrund. "Mein Gedächtnis ist schlecht, deswegen muss ich schnell rechnen, um nichts zu vergessen." Mit elf Jahren hat er im Fernsehen einen Kopfrechner gesehen und damals beschlossen, genauso gut rechnen zu können. Seitdem hat er die meiste Zeit seines Lebens dazu genutzt, diese Fähigkeit zu perfektionieren. "Es funktioniert wie Schach oder Golfspielen. Man muss nur ein Talent für das Üben haben", meint der Kernphysiker.

Ein Erfolgsrezept für dieses Können gibt es nicht. "Man muss von Zahlen besessen sein, um das Training durchhalten zu können", sagt der Linguist Frank Dohmas. Trotzdem sind die Strategien sehr individuell, wie es Kerstin Jost gesehen hat. "Die einen haben eine Vorliebe für visuelle Strategien, andere sind eher auditiv geprägt, wie man es bei den Lippenbewegungen der Rechner bei der Weltmeisterschaft sehen konnte."

Vinay Bharadwaj aus Indien, der jüngste WM-Teilnehmer, nutzt vor allem die Finger zum Rechnen. Der Elfjährige scheint im Kopf die Kugeln eines Abakus hin und her zu schieben, um mehrere zehnstellige Zahlen zu addieren. Robert Fountain und Willem Bouman sind eher auditiv geprägt. Sitzt man neben dem Niederländer beim Rechnen, sind die Zwischenergebnisse in seiner Muttersprache zu hören.

Einige greifen auf ein größeres Faktenwissen zurück, andere nutzen eher Algorithmen und wieder andere sind schneller im Rechnen. Wie dieses Verhältnis bei den einzelnen Experten ausgeprägt ist, testen Frank Domahs und die Psychologin Jost im zweiten Teil ihres Experiments, bei dem die Probanden ihre Strategien zu den Berechnungen angeben müssen.

Alte Schule

Für den Kernphysiker Robert Fountain ist Willem Bouman ein Held der alten Schule. Denn der Niederländer stammt aus einer Ära, als Kopfrechner mit ihrer Fähigkeit noch professionell Geld verdient haben und diese Experten damals Computer genannt wurden. Aber Bouman ist trotz seines Talents Automechaniker und später Reifenexperte bei Michelin geworden. "Ich bin glücklich darüber. Denn ab 1970 wurden die Kopfrechner nicht mehr gebraucht", erzählt Bouman. Damals übernahmen richtige Computer das Rechnen. Trotzdem konnte er sein mathematisches Wissen zum Beispiel zur Berechnung von Achslasten nutzen. Doch erst 2006 begann der Rentner seine Fähigkeiten wieder zu trainieren und nahm erstmals an Wettkämpfen teil. In Leipzig zeigte er, dass er es mit den jüngeren WM-Teilnehmern durchaus aufnehmen kann. Aus einer zwölfstelligen Zahl berechnete der "König der Primzahlen" vier zweistellige Primfaktoren in wenigen Minuten.

Robert Fountain nutzt seine Rechenkunst manchmal noch, um Ergebnisse, die ihm der Computer berechnet, zu überprüfen. "Das komplexe Kopfrechnen ist heute wie Joggen: Es ist nicht notwendig", resümiert der Brite. Trotzdem wünscht er sich, dass wieder ein größeres Interesse für Mathematik und Kopfrechnen geweckt wird. Entweder durch kreative Rechenmethoden oder derartige Wettkämpfe im Unterricht. Ähnlich sieht es Willem Bouman. Für ihn ist das Rechnen so wichtig wie das Lesen. "Denn sie haben jeden Tag etwas zu berechnen."

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