Allein mit Border Collie Lea hat Luis Unterthurner den Sommer lang in der 800 Jahre alten Schäferhütte verbracht - ohne fließend Wasser, ohne Elektrizität. Früh ist er aufgestanden und zeitig zu Bett gegangen. Hat Lämmer mit Farbe gekennzeichnet, Salz auf Steine gestreut, hat gebrochene Schafsbeine gegipst und geschaut, dass keines die Räude hat. Jetzt muss er die Tiere möglichst vollzählig und hoffentlich unbeschadet wieder in ihre Heimat zurückführen. Nichts scheint den Oberhirten aus der Ruhe zu bringen. Noch nicht einmal sein großer Tag.
Immer im Herbst findet der spektakulärste und härteste Viehabtrieb der Welt statt. Mit rund 2000 Schafen ziehen Schäfer von Österreich nach Italien über die Via Alpina. In nicht enden wollender Reihe treten sie den Rückweg in ihre Heimat Südtirol an. Der alte Schafspfad führt 515 Höhenmeter über Eis und Schnee des Similaun-Gletschers bis zur Passhöhe auf 3.019 Meter. Und danach 1.300 Höhenmeter bergab, einer uralten Tradition folgend, über gefährliche Serpentinen und abenteuerlich schmale Wege entlang steil abfallender Schluchten. Zweimal im Jahr müssen Schäfer und Tiere das Niederjoch überwinden - im Juni zum Auftrieb und im Herbst zum Abtrieb.
Luis, der Ur-Älpler aus den Tiefen der Zeit
Rauschebart, derbe Strickjoppe, der lange Hirtenstab und grüner Jägerhut - würde Luis Unterthurner nicht Kette rauchen - Filterzigaretten einer italienischen Marke - man hielte ihn für einen Ur-Älpler aus den Tiefen der Zeit. Am Tag des Übertriebs wird er - wie alle anderen Treiber - noch die blaue Schäferschürze anlegen, mit der gestickten Aufschrift "Schafalm Niedertal".
Rund 2000 Schafe hat er den ganzen Sommer lang gehütet, Tiere von zwanzig Südtiroler Bauern der "Alminteressenschaft Niedertal", denen insgesamt 2.177 Hektar im Nachbarland Österreichs gehören. Dazu kommen die Tiere weiterer Bauern, die ein "Grasgeld" an die Weidebesitzer zahlen müssen. Schon 1415 wurden laut noch heute gültiger Urkunde die Weiderechte der Schnalser Bauern genau geregelt. Selbst als Südtirol 1919 italienisch wurde, blieben die alten Rechte unangetastet.
Fünf Uhr morgens. Der lange Tross aus Treibern, Mitläufern, Schafen und Hunden setzt sich in Bewegung. Unkoordiniert zuerst, dann, wie durch einen unsichtbaren Trichter gelenkt, in geordneter Bahn Richtung Similaun-Gletscher. Von Streckenposten durch Bachfurten geleitet, von Hirtenhunden aus Felshängen gebellt. Während die Schafe für den Anstieg die geräumten Pfade benutzen, stolpern ihre menschlichen Begleiter durch das unwegsame Gelände aus Felsbrocken, verborgenen Grasmulden und Steinspalten. Unermüdlich sind die Hunde im Einsatz, trotz wunder Pfoten, aufgerissen von scharfen Felskanten, aufgeraut durch grobes Gletschereis.
Trotz aller Sorgfalt müssen die Schäfer Schwund in Kauf nehmen. Am Nachmittag haben sie einen Widder aus dem reißenden Wildbach gefischt, der den steilen Hang hinunter gerutscht war. Der Zuordnung halber haben ihm die Schäfer die gelb markierten Ohren abgeschnitten, um sie später dem Züchter auszuhändigen. Kein schöner Anblick, doch nach einer alten Rechnung "frisst ein Prozent der Berg, vielleicht auch zwei, das ist normal", weiß auch Luis.
Am Fuße des Gletschers wird die Herde gestaut, damit auch die Mutterschafe mit ihren Lämmern den Anschluss finden. Bald trotten alle weiter, dem Gipfel entgegen, einer Jahrtausende alten Dramaturgie folgend. Ein einzigartiges Schauspiel mit Dutzenden von Protagonisten und Statisten vor einzigartiger Naturkulisse. Der gesamte Tross bewegt sich nun über knirschendes Eis. Keiner der Treiber trägt Steigeisen. Wer zum harten Kern gehören möchte, bezwingt den Gletscher ohne Hilfsmittel. Überdeutlich ist zu sehen, wie stark der Ferner, wie die Gletscher hier genannt werden, bereits zurückgegangen und das Eis geschmolzen ist.
Weitere Informationen
Tourismusverein Schnalstal, Tel. 0039-0473 67 91 48, www.schnalstal.it, info@schnalstal.it
Oder: Ötztal Tourismus, Information Vent, Tel. 0043/57200, www.vent.at, vent@oetztal.com.
Verschnaufpause mit genialem Ausblick
Beim Abstieg passieren die Tiere auf rutschigem Geröll die schmalen Serpentinen mit ihren gähnenden Abgründen. Schnell treiben die Hirten die Herde voran, zu stark ist die Gefahr von Steinschlag und Absturz. 1979 sind auf der gefürchteten Strecke siebzig Schafe im Schneesturm erstickt. Doch diesmal haben die Züchter nicht einen einzigen Verlust zu beklagen. Zur Belohnung von Mensch und Tier wird eine weitere Rast eingelegt, die so genannte Schäfermarende, schon mit Blick auf Vernagt, hoch über dem Stausee. Untermalt vom eigenen Schellenkonzert weiden die Tiere auf der weitflächigen Alm, während die Hirten Scheiben von dicken Brotlaibern schneiden und sie mit Speck belegen.
In Vernagt, das auf rhätoromanisch "kleine Wiese" heißt, werden die Schafe schon von ihren Besitzern erwartet und in verschiedene Gatter aufgeteilt. Auf dem zünftigen Hirtenfest des Schafzuchtvereins Schnals feiern Schafbauern und Treiber, Einheimische und Gäste, mit Musik und Peitschenknallen - dem berühmten Schnalser Schnalzen - die gesunde Ankunft ihrer Tiere nach einem ungewöhnlich raschen Übertrieb von nur sieben Stunden.
Für Chefschäfer Luis bedeutet das Fest jedoch nur eine zweitägige Verschnaufpause. "Dann muss ich noch mal zurück, um einige fehlende Schafe zu suchen, die sich verlaufen oder versteckt haben." Doch für heute lehnt er den Hirtenstab an den Zaun und feiert mit seinen Kollegen.