Madrid Königin der Nacht

Die Stadt bietet Museen, Tapas und Flamenco - vor allem aber die schrägste Kneipenszene des Kontinents: In Madrid beginnt der Abend, wenn wir meist schon schlummern. Erkundungen unter Nachteulen.

Vielleicht reicht es nicht, nach einer Nacht voll Tapas, Flamenco und Drag-Queens um sieben Uhr morgens mit der 180-Pfund-Barfrau Violeta in ihrer Kneipe Wein zu trinken und zu philosophieren, um dieses Madrid zu verstehen. Vielleicht muss man Violeta stehen lassen, zum Bahnhof Chamartín fahren, dort im Café neben Technobräuten mit handbreiten Röcken frühstücken und sich in die Schlange der wohl 100 Verrückten auf dem Dach des Bahnhofs einreihen, die warten, dass es zehn Uhr wird, morgens, und das "Space" endlich öffnet. Vielleicht auch noch deren glasige Augen bestaunen, aufgerissen von Red-Bull-Wodka und ein paar nicht legalen Sachen; schließlich hineingehen, um im Dunkeln klar zu sehen: Die Madrilenen, die spinnen.

Als Franco starb, begannen die Madrilenen zu feiern

Wie den ganzen Spuk um die Nacht hier in Madrid verstehen? Wie erklären, dass die Stadt zwar 90 Museen hat, aber vor allem 2700 Restaurants und 13 300 Bars? Zunächst mit einer Geschichte. Es war einmal der spanische Diktator Franco, der schwarze Hemden, große Aufmärsche und überhaupt den Faschismus liebte. Nur den Spaß konnte er nicht leiden. Den ließ er wegsperren, in die unterste Schublade. Doch als Franco 1975 starb, besannen sich die Spanier nicht nur wieder auf die Demokratie, sondern besonders die Madrilenen begannen zu feiern und zu feiern. "La movida" nannten sie das, Aufbruch, Bewegung. Kurzum, eigentlich feiern sie noch heute.

Sicher, auf den ersten Blick gibt sich Madrid aristokratisch wie eine Hofdame. Hat nicht nur einen mächtigen Königspalast, sondern auch Prachtboulevards wie die Gran Vía voll prunkstrotzender Häuser mit Säulen und Kuppeln, dazu Portale hoch wie ein Einfamilienhaus. Hat einen Hauptplatz, die Plaza Mayor, mit streng-gleichen Fassaden und Kellnern in weißen Jacketts samt Schulterklappen. Und natürlich die museale Dreifaltigkeit aus Prado, Centro de Arte Reina Sofía und dem Museum Thyssen-Bornemisza, wo Werke von Picasso und anderen Größen hängen, doch besonders die Schinken eines Goya oder Velázquez, überzogen von Patina, so düster-schwer, als ob's von der Erbsünde käme.

Die Barrios sind das Hippste, was die Stadt zu bieten hat

Aber die feine Dame lüftet selbst am Tag ein wenig den Rock, etwa in den Vierteln Malasaía und Chueca. Einst delirierten hier Junkies vor sich hin, dann entdeckten Schwule die heruntergekommenen Viertel und begannen aus Fixer-Ecken Lokale zu machen. Es folgten Designer, Bars und weitere Restaurants. Heute sind die Barrios voll schicker Altbauten das Hippste, was die Stadt zu bieten hat. Aus offenen Ladentüren plärrt Musik, Menschen schieben sich von Schaufenster zu Schaufenster, treffen sich auf eine Caía, ein kleines Bier. Hier ein Rasta-Typ, der Graffiti sprayt, dort ein Schwulenpärchen im Partnerlook, und mittendrin im trendigen Gewusel, da sitzt Antonia Cruz und näht.

Antonia ist 34, war eigentlich Zahnarzthelferin, hat aber vor zwei Jahren ihrem Traum nachgegeben, angefangen zu nähen und eine Boutique in der Calle Santa Barbara eröffnet. Sie ist damit so etwas wie ein Prototyp der Bewohner von Malasaía. Ihr Laden heißt "Lost People" - "einfach, weil ich alle Leute auffangen will, die irgendwie in der Stadt herumirren", sagt sie. Die können dann stöbern auf gerade mal 20 Quadratmetern zwischen Antonias Selbstgenähtem und Stücken von befreundeten Designern - wie etwa Handtaschen aus Bananenkistenholz.

"Schon ein Wahnsinn, wie sich das Viertel verändert", sagt Antonia. Erst habe es in der Straße an Boutiquen nur "The Deli-Room" gegeben, der Laden präsentiert seine Schuhe in einem großen Gefrierschrank. Dann sie, schließlich einen Handtaschenladen, ein Café, und bald erinnerte hier nur noch wenig daran, dass Malasa-a einst nicht nur heruntergekommen war, sondern auch das Viertel der Linken und Arbeiter. Es gibt sie aber noch immer, die Ecken, die eher einem Dorf gleichen als einer Großstadt. Und womöglich ist es ja gerade das, was den Reiz ausmacht. Da spielen Kinder Fußball, hängt Wäsche quer über einer Gasse - und nur ein paar Meter weiter wummert der Bass aus einem Plattenladen. Boutiquen drapieren ihre Turnschuhe minimalistisch edel wie Galerien ihre Kunst, während sich nebendran Bauarbeiter zum Mittagessen treffen. Selbst Gitarrenbauer, sonst eher zum Dasein als Folklore-Statisten verdonnert, werkeln hier noch an echten Klampfen, der älteste von ihnen, Javier Rojo, gar seit über 40 Jahren.

Besonders einladend wirkt Rojos Laden nicht, ein kleines Schaufenster, eine Tür, die sich erst nach dem Anklopfen öffnet. Aber der Besuch lohnt sich nicht nur für Könner des Saitenspiels. Denn der 61-jährige Rojo beginnt schon nach den ersten Fragen zu erzählen und zu erzählen. Von der Franco-Zeit, als sich in den Kneipen rund um die Plaza Dos de Mayo die Literaten mit den Linken trafen. Von den wilden Jahren danach, als Spaniens Jugend zum ersten Mal jung sein durfte.

Und natürlich von der Kunst des Gitarrenbaus. "1961 habe ich in diesem Laden als Lehrling angefangen und ehrlich gesagt nie daran gedacht, woanders zu arbeiten", sagt Rojo. Wie ehedem sägt und leimt er hinten in der Werkstatt die Gitarren zusammen. Vorne hängen die Fotos seiner Kunden, darunter auch Schnulzen-Schmuser Julio Iglesias. Ist es nicht schade, wenn die alten Läden den neuen Boutiquen weichen? Rojo hebt nur die Schultern. "Das ist eben der Lauf der Zeit und so schlecht nun auch wieder nicht", sagt er, "die jungen Leute kaufen zumindest mehr Gitarren als die alten." Auch in anderen Gegenden Madrids lässt sich das Zusammenleben von Neureichen und Beziehern magerer Renten bestaunen. In Lavapies etwa oder auch rund um die Plaza de la Paja, wo sich Gott und die Madrider Welt auf ein paar Tapas trifft. So bunt gemischt wie in Malasa-a oder Chueca aber ist's nirgends. Besonders hier tun die Bürger das, was ihnen am liebsten ist: ausgehen.

Der Madrilene lebt erst auf, wenn der Deutsche schon schlummert

Er ist sonderbar, der Madrilene. Liebt seine Stadt, in der es wegen der Höhenlage (650 Meter) im Winter bibbernd kalt werden kann und im Sommer brutig heiß. Macht noch immer mittags seine zwei, drei Stunden Siesta. Und lebt erst auf, wenn der brave Deutsche seinen Kopf aufs Hotelkissen bettet. Denn Regel eins des Nachtlebens in Madrid: Vor zehn bricht keiner zum Essen auf. Und richtig essen ist es meist auch nicht. Mehr an einer Bar herumstehen und Augen und Finger über die Happen aus Schinken, Käse oder Fisch kreisen lassen.

"Tapear", also Tapas essen, geht in Madrid iberisch-klassisch ebenso wie etwa exotisch-indisch. Besonders schön aber im kleinen "Bocaito". Man steht dicht an dicht, an der Wand hängt der Plan der Stierkampfsaison, und die Herren hinter der Bar zaubern mit scharfen Messern und flinken Händen ratzfatz leckere kleine Bissen zusammen. Und wenn man lange genug wartet, kommt vielleicht sogar Spaniens Kultregisseur Pedro Almodóvar zur Tür herein. Das "Bocaito" ist einer seiner Stammläden.

Die Chance dafür stehen aber eher schlecht, denn - Regel zwei - der Madrilene wartet nicht. Er wechselt sein Lokal mindestens ein halbes Dutzend Mal pro Abend. Nach dem Essen nimmt er noch irgendwo ein Bier, und frisch gestärkt beginnt ab ein, zwei Uhr nachts der richtige Abend. Mittlerweile drängen sich in den Straßen die Menschen, Autos hupen gegen den Stau, und die ersten Clubs öffnen.

Wo soll man da anfangen? Beim Klassiker, dem "Kapital" - einem Tanztempel auf sieben Stockwerken in einem ehemaligen Theater? Den kleinen Flamenco-Bars wie "Candela" oder "Solear", wo sich weit nach Mitternacht Zigeuner zu Jam-Sessions treffen? Oder vielleicht dem gerade angesagtesten Laden, dem "Cool"? Nach drei Uhr wird's hier voll. Drag-Queens stolzieren in Stöckelschuhen entlang der Neon-Bar. Ein paar Meter weiter wirbelt ein Schwulentrio namens Angel, Oskar und David über die Tanzfläche (die Namen stehen auf ihren T-Shirts). Halb synchron werfen sie die Arme in die Höhe, kreisen mit den Hüften wild um die Wette, als ob's um die Bauchtanz-Europameisterschaft ginge.

Aber ein reiner Schwulen-Club ist das "Cool" nicht, Models tanzen hier genauso wie Anzugträger und schluffige Normalos in Jeans und Hemd. Hetero und Homo mischt sich so entspannt, dass es wohl manchem Inquisitions-gestählten spanischen Kleriker schon beim Gedanken daran die Halskrause sprengen würde. Im Übrigen greift aber auch im "Cool" Regel zwei: Wenn's am schönsten ist, heißt es wieder raus auf die Piste stürmen. So kommt es, dass man nach weiteren Boxenstopps in großen Schuppen und kleinen Spelunken irgendwann die Sonne aufgehen sieht, mit einer stämmigen Barbesitzerin philosophiert und am Ende mit müden Beinen auf dem Dach eines Bahnhofs wartet, um endlich um zehn Uhr morgens wieder rein ins Dunkle zu dürfen. Zu den wummernden Bässen. Den Lasern und Lichtern. Und den nimmermüden Bekloppten. Schließlich gilt immer und überall Regel drei: Die Madrilenen, die spinnen irgendwie.

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Marc Goergen

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