Schiermonnikoog Die kleine Klare vor der Küste

Viel Wind, viel Meer und jede Menge Strand - das hat Schiermonnikoog zu bieten. Der Winzling unter den niederländischen Nordseeinseln ist der ideale Ort, um sich den Kopf freipusten zu lassen.

Weit draußen bricht sich die Brandung, das blaue Licht des Leuchtturms streicht über den Strand. Die Flut rollt heran wie seit Jahrhunderten schon. Die Wellen fressen an der Insel, tragen hier ein Stück ab, spülen dort eine Sandbank an - so driftet die Insel allmählich nach Osten. Schutzlos ist das Lytje pole, das kleine Eiland, der Nordsee ausgeliefert. Schiermonnikoog droht eines Tages auseinander zu brechen, an der schmalsten Stelle schwappt die See bei Flut manchmal drüber hinweg. Der Wind weht pausenlos, die Farben, die Geräusche, die Gerüche verändern sich täglich, stündlich, so wie die Insel selbst, und gerade das macht ihre Schönheit aus, das wissen alle, die hier leben. Wo nichts bleibt, wie es ist, da besitzt jeder Moment seine eigene Kostbarkeit.Eben war der Strand noch unbetretbar heiß, eine Sandwüste, der breiteste Strand Europas, sagen die Einheimischen. Eine Stunde später verdunkelt sich der Himmel, reiten scharfkantige Winde auf den Wellen, zerstieben Schaumkronen in der salzigen Luft. Henk breitet die Arme aus, er lacht, die 70 Jahre sieht man ihm nicht an, ein harter Knochen - wo die Italiener sich in Fleecepullis in den Wind stemmen, schlendert er in kurzen Hosen über den Strand. Die Möwen scheinen in der Luft zu stehen, die Wolken ziehen weiter, das Dünengras glitzert in den Strahlen der tief stehenden Sonne, bewegt sich im Wind wie ein Meer. So viele harte Momente es auf Schiermonnikoog gibt, erklärt der ehemalige Schulleiter Henk Koning, so viele zarte gibt es auch, "das eine wäre ohne das andere nicht möglich".

Die Menschen, die auf Schiermonnikoog leben, haben sich hier ihr Paradies geschaffen, es ist zerbrechlich, das wissen sie, das macht es umso wertvoller. "Um hier leben zu können", sagt Henk, "musst du ein Gefühl haben für die Schönheit der rauen Natur. Und du musst mit den speziellen Regeln zurechtkommen, die das Leben in einer Inselgemeinschaft mit sich bringt." Weglaufen geht nicht.Der Lohn dafür: ein Leben wie im Malkasten. Schwarzweiße Kühe grasen auf sattgrünen Wiesen, Schäfchenwolken ziehen über den tiefblauen Himmel, im Hintergrund die beiden Leuchttürme, einer rot, der andere weiß. Gibt's nicht, denkt man, kein Klischee wird ausgelassen, ein Spielzeugdorf mit Reetdächern und gepflegten Gemüsebeeten - aber es ist echt, das Leben ist rund. Schiermonnikoog ist die kleinste der niederländischen Wattinseln. Und die schönste. Autos sind für Gäste verboten, es gibt keine Ampel, nur eine Hand voll Verkehrsschilder. Schiermonnikoog ist eine Welt für sich, mit rund 1000 Einwohnern und einer eigenen Sprache. Mit dem Auto bleibt auch die Reizüberflutung auf dem Festland zurück. Die Insel reinigt ihre Besucher von innen. Ein paar Radler strampeln über den Deich, die Kirchturmglocken läuten. Schlichte Freuden.

Ruhe beginnt den Kopf zu ergreifen, den ganzen Zivilisationsmüll aufzuräumen, die Sinne für die Feinheiten zu schärfen. Das leise Knistern des Windes im Dünengras, die salzige Luft, die Rufe der Vögel. Mit dem Fahrrad auf weißen Pfaden aus gewalztem Muschelschlamm durch den Birkenwald fahren, durch einen Dom aus grün schimmerndem Licht. Die Nächte sind still. Das öffnet die Seele. "Ich habe alles auf Schier", sagt Rolf, ein Hamburger Zahnarzt. "Warum soll ich woanders hinfahren?" "Das Leben wird immer hektischer", sagt Henk. "Deswegen kommen die Menschen her. Um sich zu erholen." Schiermonnikoog ist radikal. Einfach und klar. Wind, Wolken und Meer. Sonst nichts. Im Ostteil der 17 Kilometer langen Insel kann man stundenlang wandern, mit dem Fahrrad Salzwiesen, Polder, Dünen, Watt, Wälder und Strand erkunden, ohne jemandem zu begegnen. Von Lauwersoog, vom Festland, schimmern übers Binnenmeer die Abendlichter herüber, eine andere Welt.

Zurück im Dorf, fällt aus den Häusern bernsteinfarbenes Licht auf die Gassen, in den Kneipen kann man den strammen Nordwest aus den Jacken schütteln, eine Korenwijn trinken, einen Klaren, oder einen Pannekoeken essen. Und wie in einem Priel das Wasser zusammenläuft, so landen früher oder später alle im Hotel Van Der Werff, diesem verwunschenen Kasten, der 1726 als Poststube gebaut wurde, dann Rathaus war und jetzt Hotel, voll gestopft bis unters Dach mit Erinnerungen - Fotos, Urkunden, Zeitungsausschnitten, Karten, Schiffsmodellen.Noch heute spielt sich hier alles Wichtige und Unwichtige ab. In dem Restaurant mit den blank gescheuerten Tischen und der Bar mit Billardtisch treffen sich die Alten, mit Gesichtern knorrig wie betagte Bäume, und erzählen von früher, von der Besiedlung durch die Mönche und von den Walfängern, harten Burschen, die für Monate in den Polarmeeren kreuzten. Das dünne holländische Bier namens Gulpener fließt; die Augen leuchten, die Hände schlagen auf die Tischplatte. Von Sake van der Werff reden sie, dem Hotelpatron, der 1893 als Feldpolizist auf die Insel kam und mit List, Geschäftssinn und einer gehörigen Portion Selbstherrlichkeit als Hotelier Karriere machte. Als ihm andere Hotels mit ihren Taxis zu viele Gäste am Anlegesteg der Fähre wegschnappten, kaufte er kurzerhand den Zufahrtsweg zur Konkurrenz und ließ ihn sperren.

Von den Deutschen reden sie, den Bernstorffs, denen die Insel bis 1945 gehörte, die Wälder auf dem kahlen Eiland pflanzten, und vom Krieg, der Besatzungszeit. "Der Inselkommandant wusste, dass wir jüdische Mädchen versteckten, aber er hat uns nicht verraten", berichten sie. Als nach der Landung der Alliierten die Kanadier auf dem Festland die Fluchtwege abschnitten, flüchteten SA und SS auf die Insel und verlangten vom Inselkommandanten, die Bevölkerung umzubringen. "Er weigerte sich und lieferte die NS-Leute den Befreiern aus", so erzählen die Insulaner. Was macht den Menschen aus? Arbeiten und reden und trinken und schlafen, so ist das Leben auf Schiermonnikoog, das sich treu geblieben ist trotz der 300.000 Touristen jedes Jahr, ein Drittel davon Tagesausflügler. "Als ich 1958 herkam, war ich ein junger Lehrer in Groningen", erinnert sich Henk. "Ein Abenteuer, dachte ich, für fünf oder sechs Jahre. Dann bin ich geblieben, mein ganzes Leben." Er hat hier geheiratet, eine Tochter und zwei Söhne bekommen, die Schule bis zu seiner Pensionierung geleitet, ist Insulaner geworden. Aufs Festland fährt er kaum noch. "Wir haben unsere Tür geöffnet, Tag und Nacht. Wozu soll ich reisen?"Für das Leben auf einer so kleinen Insel muss man geschaffen sein. Jeder weiß alles von jedem. Wer das nicht aushält, muss die Insel verlassen. "Auf einer Sitzung habe ich jemanden beleidigt", erzählt Henk. "Wir haben fünf Jahre nicht geredet. Dann bin ich zu ihm gegangen. Wir sollen keine Feinde mehr sein, habe ich gesagt. Damit war es erledigt." Wer dazugehört, gehört dazu. "Auf Schiermonnikoog haben wir kein Krankenhaus. Einer von uns lag in Groningen im Hospital. Da ist der Shantychor hin, hat für ihn gesungen. Dem liefen die Tränen über die Wangen. Das macht man für jemanden, der allein auf dem Festland ist."

Die Gemeinschaft hört nie auf, nicht einmal mit dem Tod. Auf einer Insel, auf der sich Seuchen schnell ausbreiten, besitzt der Friedhof einen besonderen Wert. "Am stolzesten", sagt Henk, "bin ich in meinem Leben darauf, jahrelang Träger bei Beerdigungen gewesen zu sein. Wer hier geboren ist, soll auch hier begraben werden, und das soll durch die eigenen Leute geschehen und nicht durch Fremde vom Festland." Graf von Bernstorff ist auf dem Dorffriedhof begraben, so wie auch Kapitänleutnant Wittko, der Inselkommandant aus dem Zweiten Weltkrieg. Nur Sake van der Werff liegt auf einem eigenen Friedhof: dem Vredenhof für Ertrunkene, den er gegen alle Widerstände der Verwaltung durchsetzte. Angeschwemmte Fischer wurden dort beigesetzt, später auch Opfer des Krieges: Jagdflieger und Seeleute aus England, Amerika, Holland und auch Deutschland. Van der Werff organisierte die Begräbnisse und benachrichtigte die Angehörigen. 1955 ließ er sich dort beisetzen - Königin Juliana erteilte die dazu notwendige Erlaubnis.

Sie lieben ihre Insel, alle miteinander - aber über deren Schönheit spricht niemand. "Das musst du fühlen" ist alles, was sie dazu sagen. Wenn die Fähre durch das Watt nach Ameland fährt, die Sonne im Nebel versinkt, dann ist da Stille, Strahlen, der Geruch nach Eisen, unterwegs im Nichts, wie in einer anderen Welt. Aus dem Nebel taucht eine Sandbank auf, ganz nah, Seehunde liegen darauf und dösen, die Fähre zieht vorbei, in ein überwältigendes Gefühl der Weite.Und wenn abends, nachdem die Tagesausflügler die Insel wieder verlassen haben, auf dem Dorfplatz gegenüber dem Hotel Van Der Werff der Shantychor Gin See To Heich - Kein Meer zu hoch - auftritt, 40 Mann auf der Bühne und ein Klavier, und "Rolling Home" singt, "rolling home across the sea", dann treiben die Männerstimmen durch die Gassen und hinaus auf die See. Das Licht des Leuchtturms streicht durchs Dünengras. Die Wellen rollen heran. Manchmal ist im Leben alles gut so, wie es ist.

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Ulf Hedaya

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