Citytrip nach Marseille Am Port des Geschehens

Von Martina Wimmer
Im Hafen spiegelt sich der Wandel der verruchten Schönen. Im Wortsinn: Dort, wo die Sonne das Mittelmeer beglänzt, spendet das Spiegeldach von Norman Foster Schatten und eröffnet neue Blickwinkel.

Der Hafen von Marseille erwacht mit der Ankunft der Fischhändler. Es sind nicht mehr viele, die dort Tag für Tag ihre Stände aufbauen. Die Boote der Fischer sind schnittigen Jachten und Segelbooten gewichen, die in Reih und Glied vertäut in der Morgensonne leuchten. Doch eine echte Marseiller Hausfrau, so heißt es, kauft ihren Fisch immer noch am Vieux Port, dem alten Hafen.

Ein paar Meter weiter sind die Bewegungen der Menschen weniger zielorientiert. Die Köpfe weit in den Nacken gelegt, stehen sie durcheinander, leicht taumelnd und mit Blick nach oben. Hoch über ihnen schwebt eine gigantische spiegelnde Stahldecke auf Säulenbeinen. Die Busse und Autos, die am Quai des Belges den Hafen streifen, stehen darin kopf, das glitzernde Meer wird zum Himmel. Es kann einem leicht schwindlig werden unter diesem Bild der Stadt.

Sensationelle Neubauten von Foster und Hadid

"L'Ombrière", der Schattenspender, heißt das 1080 Quadratmeter große Spiegeldach, das der britische Architekt Sir Norman Foster entworfen hat. Man kann das Bauwerk durchaus als Anspielung darauf verstehen, wie viele Gesichter Marseille hat, wie schnell sich die Stadt, je nach Blickwinkel, verändert. Dort unten am Hafen, wo jeder erst einmal anlandet, schlägt ihr Herz. Vor nicht allzu langer Zeit hat man den Platz dafür geschaffen, hat das neunspurige Verkehrschaos auf zwei schmale Fahrbahnen reduziert und die offene Fläche den Flaneuren geschenkt.

Marseille hat sich eine neue, schicke Wasserlinie verordnet - samt dazugehörigem Architekturspektakel. Im vergangenen Jahr entstand das Foster-Dach, eröffnete das Kulturzentrum Villa Méditerranée mit seinem Überbau, entstand die schwarze Schachtel MuCEM mit der löchrigen Betonfassade, in der die Kulturen Europas und des Mittelmeers präsentiert werden. Für die zeitgenössische Kunst im Musée Regards de Provence wurde eine ehemalige Sanitärstation aufgerüscht, das Zaha-Hadid-Hochhaus einer großen Reederei im neuen Geschäftsviertel Euroméditerranée ragt am Horizont zwischen vielen Kränen anderer Baustellen in den Himmel.

Bühne der Stadt: Vieux Port

Auf dem großen neuen Platz am Vieux Port vor der gleißenden Kulisse des Mittelmeers mischen sich staunende Besucher mit Einheimischen, Anzugträger aus dem nahen Rathaus schaukeln ihr Mittagessen auf den Knien, muslimische Teenager mit Kopftüchern kichern mit den Möwen um die Wette. Und inmitten der Menschenmenge, die in alle Richtungen den neuen Raum kreuzt und quert, steht eine ältere Dame im Blumenkleid und singt schaurig schief Chansons. Eine Fischhändlerin winkt lachend ab und sagt: "Sie steht hier jeden Tag, wir hören sie schon gar nicht mehr."

Die ganze Stadt ist ein Orchester aus Geräuschen und Stimmen, ein lauter, lebenspraller Angriff auf die Sinne. Über dem Marché des Capucins, wo die vielen nordafrikanischen Einwanderer Obst, Gemüse und Gewürze in großen Bergen feilbieten, liegt das Stimmengewirr wie ein Dauerrauschen. In einer Seitenstraße tönt aus den hohen, geöffneten Fenstern Musik. Ein schnurrbärtiger Mann mit zu enger Lederjacke blafft in den Hörer einer Telefonsäule. Dazu hupen Autos, tuten Schiffe, klappern Absätze im Rhythmus, und eine Tanzlehrerin gibt strenge Kommandos. Jeder Moment in Marseille setzt eine Geschichte im Kopf in Gang, jedes Bild könnte ein Filmanfang sein.

Frankreichs Metropole Nummer zwei

Sie ist die zweitgrößte Stadt Frankreichs, 860.000 Einwohner, ein Häusermeer am Mittelmeer, das sich weit hinauf über die provenzalischen Höhen ergießt und die Länder des mediterranen Raums aufgesogen hat wie kein anderer Ort an der Küste. Italiener, Türken, Spanier, Algerier, Tunesier, Marokkaner bevölkerten in mehreren Einwanderungswellen die Stadt. Ein Großteil der Marseiller hat ausländische Wurzeln.

Übernommen aus:

Geo Saison, Heft Dezember 2014, ab sofort für 6 Euro am Kiosk. Hier finden Sie auch den ungekürzten Marseille-Artikel und den ausführlichen Serviceteil.

Die Schriftstellerin Minna Sif vertritt mit ihren Büchern über die Einwanderer wortgewaltig dieses Völkergemisch. Ich treffe sie in einem kleinen Café zu Füßen des Altstadtviertels Le Panier. Es heißt "Blue Dream of Marseille" und ist der bunt eingerichtete Lebenstraum eines Frauen-Duos: Valeria entstammt einer senegalesisch-korsischen Verbindung, Marie-Rose ist halb Provenzalin, halb Italienerin. Sie verkaufen Crêpes und exotische Teesorten, Marie-Rose sagt: "Ich bin zu alt, um Männer zu verführen, also verführe ich meine Gäste."

Minna Sifs Eltern sind Marokkaner. Von dort dann nach Korsika ausgewandert. Als Minna neun Jahre alt war, trieb die Suche nach Arbeit die Familie weiter nach Marseille. "Aber wir haben uns schnell eingewöhnt." Die Atmosphäre der Stadt, sagt die Schriftstellerin, mache Identitäten und Kulturen nicht klein, sondern schaffe es, sie zusammenzuführen. "Wenn ich die Bewohner der Stadt nach ihrer Herkunft oder Nationalität frage, sagen sie alle: ,Je suis Marseillais.' Nicht Algerier, Marokkaner oder Franzose. Marseiller!"

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