Der Indianer, der uns erwartet, hat sich als Indianer verkleidet. Wilfred Whatoname vom Stamm der Hualapai trägt als einziger der zahlreichen hier arbeitenden Ureinwohner Schmuck seines Stammes: Ketten aus bearbeiteten Tierknochen, Glasperlen und Metallscheiben. Ein kleines Ensemble aus Adlerfedern und bunten Schnüren ist in seinem Haar über dem rechten Ohr befestigt. Hemd und Hose allerdings sind aus Jeansstoff, klassisch blau. Wilfred - Vorname genügt. Sein Händedruck ist sanft, er spricht wenig und mit leiser Stimme - trotz der lauten Umgebung. "Wir sind ein abgeklärtes Volk", sagt der Hualapai. Nichts scheint ihn erschüttern zu können. Außerdem ist das hektische Treiben gut für ihn und seinen Stamm, es bringt Jobs und Geld ins Reservat. Dieser Teil heißt Grand Canyon West (GCW) und ist der kleine Bruder des großen, bekannten und touristisch voll erschlossenen Nationalparks. 446 Kilometer ist der Grand Canyon insgesamt lang, und die 160 westlichsten davon gehören den Hualapai.
Der Stamm versucht, von der Faszination der Menschen für Naturwunder zu profitieren. Immerhin bietet GCW einiges, um sich vom Nationalpark im Osten zu unterscheiden: Indianerflair, die Anfang des Jahres eingeweihte Glasbodenplattform "Skywalk" und eigene Gesetze: Zum Beispiel erlauben die Hualapai im Gegensatz zur Nationalpark-Verwaltung, dass Hubschrauber auf dem Grund des Canyons landen.
Alle Wege beginnen im Terminal
Jeder Besuch von Grand Canyon West beginnt in einer Art Container, dem Check-in für das Indianerreservat. "Passagierterminal" steht über der Eingangstür. Direkt daneben, das Besucherzentrum samt Souvenirladen: T-Shirts, Bücher, Tassen gibt es dort, aber auch spezifisch Indianisches wie Kräutermischungen (beispielsweise den Abführtee "Bär im Wald" oder "Heulender Wolf" gegen Heiserkeit), Traumfänger und Friedenspfeifen. Die Bezeichnung Terminal ist passend. Die Ausflugsbusse des "Grand Canyon West Express" starten hier ebenso wie die Hubschrauber für die Rundflüge. Der Lärmpegel ist beträchtlich.
Wilfred ist der Vorzeige-Indianer dieses Tourismusprojekts der Hualapai, und das ist wörtlich zu nehmen. Nicht nur, dass er Pressearbeit und PR verantwortet. Er ist auch das Gesicht des Stammes: Der Indianer, der auf den offiziellen Werbemotiven, auf Bussen und Plakaten versonnen über die Schlucht blickt - das ist Wilfred.
Dass er diese Pose im Schlaf beherrscht, beweist der "Native American" am Guano Point, einem besonders exponierten Felsvorsprung, der einen atemraubenden Rundumblick über den Canyon und den Colorado River bietet. "Ein Foto bitte!" - und Wilfred wird zur Indianerstatue mit entrücktem Blick. Entrücken fällt leicht angesichts der Schönheit, die in jeder Blickrichtung strahlt. Die Felswände mit ihren Gesteinsschichten, die sich innerhalb von Minuten - je nach Sonnenlicht und Bewölkung - verfärben, von hellgelb über rostrot bis dunkelbraun. Der Fluss in der Tiefe, an dessen Ufern Kakteen, Büsche und Gräser knallgrün leuchten. Über einen Grat kann man zu den Ruinen einer Seilbahn kraxeln, deren Stützpfeiler wie Skelette in die trockene Wüstenluft ragen. Direkt auf der gegenüberliegenden Seite, in der Nordwand des Canyons wurde in den 1960er Jahren eine Fledermaushöhle entdeckt. Um an den als Dünger heiß begehrten Kot der Tiere zu gelangen, entstand die Seilbahn. Der Ertrag war allerdings Mist. Die Anlage wurde schon bald verlassen.
Über dem Abgrund
Provisorisch, halb fertig, irgendwie fremd - willkommen am Skywalk, der Grand Canyon West den entscheidenden Erfolg bringen soll. Das Bauwerk sieht in natura ganz anders aus als auf den Zeichnungen, die um die Welt gingen und die sogar auf den Bussen zu sehen sind. Die Plattform ist nicht direkt an den senkrecht abfallenden Fels herangebaut worden, sondern sie liegt oben auf dem Plateau auf und ragt über die Abbruchkante hinaus - wie ein Sprungbrett. Vor dem Skywalk soll ein Besucherzentrum mit Kinos, Restaurants und Tagungsräumen entstehen, doch noch bestimmen Baumaschinen und Notlösungen das Bild. Ein paar Indianerzelte stehen auch herum. Wilfred: "Unser Volk lebte nie in Zelten, sondern in Hütten. Aber wenn die Touristen Tipis wollen, kriegen sie Tipis. Wir stellen dann noch ein paar unserer Hütten dazu und erzählen ihnen die Wahrheit."
Informationen
Offizielle Homepage Grand Canyon West: www.destinationgrandcanyon.com
Homepage von Arizona: www.arizonaguide.com
Im gesamten Hualapai-Reservat gibt es keinen Alkohol zu kaufen.
Übernachtungen
Hualapai Lodge: Hotel mit Indianerflair in Peach Springs, dem Hauptort des Reservats, rund 90 Minuten Fahrt von Grand Canyon West entfernt. Befindet sich direkt neben einer Bahnstrecke. Bei Bedarf gibt es kostenlose Ohrstöpsel. Preis pro Zimmer: ab 70 Dollar
info@grandcanyonresort.com
Hualapai Ranch: In Grand Canyon West. Eine Pferderanch mit schlichten, aber hübschen Übernachtungshütten. Von hier starten die Ausritte zur Kante des Canyons. Übernachtungen: 100 bis 180 Dollar
Reservations@destinationgrandcanyon.com
Aktivitäten
Vier Touristen-Pakete von 50 bis 200 US-Dollar pro Person werden angeboten. Wer Grand Canyon West besucht, muss sich für eines der Pakete entscheiden. Informationen und Reservierungen
Skywalk
Kostet 25 Dollar zusätzlich.
www.grandcanyonskywalk.com (Mit deutscher Version, die katastrophal übersetzt ist)
Rafting auf dem Colorado River
Die Tagestour mit den Hualapai River Runners beginnt in Peach Springs. Preis pro Person: 250 Dollar + 79 Dollar Transportkosten
Anreise
Die nächste größere Stadt ist Las Vegas. Vor dort starten täglich verschiedene Touren mit Fahrzeugen, Hubschraubern und Kleinflugzeugen. Fünf Fahrtstunden entfernt ist außerdem Phoenix.
Vor dem ersten Schritt auf die Plattform mit dem durchsichtigen Boden müssen wir alle festen Gegenstände - auch Kameras und Handys - abgeben. "Am Eröffnungstag ist eine herunterfallende Kamera gegen die Glaswand geprallt und hat einen Sprung verursacht", erläutert Wilfred. Das Wandglas, das ebenso wie der aus sechs Schichten bestehende Boden in Deutschland gefertigt wurde, sei gebogen und stehe deshalb und wegen der Temperaturschwankungen in der Wüste extrem unter Spannung. Der Sprung im Glas ist gut zu sehen. Nicht weit entfernt bietet ein freundlicher Skywalk-Mitarbeiter mit einer fest installierten Digitalkamera seine Dienste an: Gruppenfoto ohne Grund und Boden. Der Schutz des Glases hat einen lukrativen Nebeneffekt, ein Abzug kostet 20 Dollar.
Wie es ist, durch den Fußboden in einen 1200 Meter tiefen Abgrund zu blicken? Vorsichtig rutschen die in Schutzhüllen steckenden Schuhe nach vorne. Aufwühlend, diese ersten Schritte. Dann: Entspannung. Nichts wackelt, kein Wind streicht über die Haut. Da unten sind Felsen, Steine, auch Kakteen. Doch das Auge erblickt keine Menschen, Tiere oder Autos. Nichts, dessen Größe das Gehirn korrekt einschätzen könnte. Man fühlt sich wie in einer Schutzkapsel. Ganz anders ist es hundert Meter neben der künstlichen Brücke, wo die Abbruchkante frei zugänglich ist. Nirgendwo in Grand Canyon West gibt es Absperrungen. Mit jedem in die Tiefe fallenden Stein, jedem plötzlichen Windstoß fließt das Adrenalin. Von hier Luftlinie in den Colorado River... eine ganz schlechte Idee. Dann lieber auf Touristenart, am nächsten Tag.
Höllenritte und Höllenklos
Ein alter gelber Schulbus bringt uns zum Diamond Creek, der Anlegestelle am Ufer des Colorado Rivers, wo bereits die Raftingboote warten. Jedes dieser so genannten Pontonboote trägt acht bis zehn Passagiere: Zwei große, luftgefüllte Schwimmer sind durch eine Metallplattform verbunden, die die Fahrgäste, den Steuermann und zwei Außenbordmotoren aufnimmt. Schwimmwesten werden verteilt, und was nicht nass werden soll, kommt in wasserdichte Säcke und Kisten. "Eine Toilette ist hinter jedem Busch" hatte die Tourleiterin gesagt. Wir stürmen trotzdem die letzten zivilisierten Aborte und lernen auf die harte Tour: Dixi-Klos in der Wüstensonne - auch am Morgen schon eine Folter für alle Sinne.
Unser Steuermann heißt Michael Jackson. Er ist klein, bullig und hat schon alle Witze über seinen Namen und den ehemaligen King of Pop gehört. Trocken bemerkt er: "Ich bin aber viel reicher als der andere Michael Jackson, schließlich gehören mir mehr als 4000 Quadratkilometer Land". Mike, so nennen wir ihn, meint das Gesamtgebiet des Reservats und lehrt uns die erste von vielen Indianerlektionen des heutigen Tags: Das Land gehört allen Hualapai gleichermaßen.
Schon nach wenigen Minuten Flussfahrt ruft Mike: "Festhalten! Wirklich, wirklich festhalten". Er gibt Gas. Hinein in die ersten Stromschnellen, die "rapids". Schläge von unten, das Boot bäumt sich auf, fällt zurück. Adrenalin schießt in den Körper, Hände krallen sich um die Halteseile, jeder brüllt. Das Flusswasser schwallt mit Macht ins Boot. Luft: weit über 30 Grad Celsius. Wasser: sieben Grad. Der Atem stockt, wenn die Gischt das Gesicht trifft. Das Nass läuft kalt den Nacken herunter. Jede Welle durchweicht die Kleidung mehr - langsam, aber unaufhaltsam. Später wissen alle: Frieren funktioniert auch mittags in der Wüste. Eine Pause mit Lunchpaketen und vor allem Klamottentrocknen ist die Rettung.
Statt Lagerfeuer: Außenborder-Geschichten
Wir treiben den Colorado River herunter, weil Mike die Außenborder abgeschaltet hat. Er weiß, für einige Kilometer bleibt der Fluss ganz ruhig. Gelegenheit, die Schönheit der Natur in sich aufzusaugen - und den Geschichten des Indianers zu lauschen. Aus einer zerknitterten Aktenhülle kramt er ein paar alte Fotos: Mike als junger Mann neben erlegten Tieren. Eigentlich ist er auch mit geschätzten 50 Jahren immer noch ein Jäger. Weil er davon nicht leben könnte, macht er diese Bootstouren. "Ich habe auch noch einen Job auf der Ranch, wo Touristen übernachten und mit Pferden an den Rand der Schlucht reiten können", fügt er hinzu. Mike erzählt von dem Glauben seines Volkes: "Für Euch stammen die Tiere von den Dinosauriern ab, wir glauben, dass sie alle hier unten aus dem Canyon kommen." Wir treiben an einigen Seitenschluchten vorbei, die den Hualapai heilig sind. Kein Fremder darf sie betreten. Irgendwann klopft Mike einen einfachen Rhythmus und singt ein Lied in Yuma, der Sprache seines Volkes. Es ist zu kurz, als dass europäische Ohren Worte oder eine Melodie erkennen könnten.
Die vergilbten Bilder. Die zwei zerfledderten Seiten aus einem Geschichtsbuch über die Hualapai-Kriege um 1870, die uns Mike zusteckt ("Teilt sie euch, ich habe nur eine Kopie gemacht"). Die Anekdoten, das Lied - vorgetragen von einem amerikanischen Ureinwohner, der in Badehose zwischen zwei Außenbordmotoren sitzt. Keine Tänze, keine Federn, keine Inszenierung. Unvergesslich.
Den Abflug machen
Nach fünf Stunden auf dem Fluss kehren wir in die Zivilisation zurück. Genauer: Die Zivilisation holt uns ab. Wir werden per Hubschrauber von der Anlegestelle zurück zum Passagierterminal geflogen. Die fünf Minuten in der Luft reichen aus, um sich noch ein letztes Mal von diesem Naturwunder Grand Canyon bis ins Mark beeindrucken zu lassen.
Als wir landen, steht da wieder dieser Indianer vor dem Terminal. Unerschütterlich. Nur ein paar Adlerfedern in seinem Haar zittern im Wind, den die Rotoren der Hubschrauber verursachen.