Die erste Maiwoche war so eine Woche. An einem der Tage eine kleine Rallye: Viele Indizes schossen nach oben, Teilnehmer sprachen über Euphorie und Erleichterung, um drei Prozent stieg allein der S&P 500 am 4. Mai. Um dann am Tag darauf um 3,5 Prozent wieder zu fallen. Zwei Tage später: nochmal 3,2 Prozent runter. Ähnliche Ausschläge erlebten der Dow Jones und der Nasdaq. Tendenziell sinken die Kurse seit Wochen an den Börsen – es ist die Mischung aus Kriegsangst, Rohstoff- und Energiekrise, angespannten Lieferketten, hoher Inflation und der Zinswende der Notenbank Fed. Manchmal lösen gute Arbeitsmarktdaten ein kleines Kursfeuerwerk aus, manchmal verpuffen sie.
"An manchen Tagen hat man das Gefühl, dass schon ein falsches Komma der amerikanischen Notenbank zu einem Kursrutsch führt", sagt der Aktieninvestor Christian Röhl im Podcast "Aktien fürs Leben", den er gemeinsam mit Capital-Chefredakteur Horst von Buttlar betreibt. Die Zusammenballung von Krisen prägt seit Jahresbeginn die Stimmung – zum einen die immer noch nicht ausgestandene Corona-Pandemie, die vor allem in China zu drastischen Lockdowns führt. Hinzu kommt der Ukraine-Krieg, der in Europa einen Energiepreisschock ausgelöst hat und die Inflation befeuert. Der IWF spricht von einer "crisis on top of a crisis".
Investoren müssten noch gezielter mit der großen Unsicherheit umgehen – und sich von den täglichen Schwankungen befreien. "Man muss aufpassen, dass man sich von der medialen Überlagerung von Krisen nicht wahnsinnig machen lässt", so Röhl. "Dann ist man paralysiert und sagt nur noch: Ich will gar nichts mehr machen. Und das ist ein Fehler." Als Anleger müsse man sich breit aufstellen und die Szenarien, vor denen die Wirtschaft steht, noch besser verstehen – und sich darauf einstellen. "Es bringt nichts, alles auf dem Tagesgeldkonto zu belassen oder alles in Bitcoin zu ballern oder in Gold zu horten", sagte Röhl.
Im Kopf vom Kurs lösen
Eine Herausforderung ist für viele Anleger, dass sich derzeit das "Belohnungssystem" für das Gehirn ändert. Seit einigen Jahren haben tendenziell steigende Kurse trotz der Schwankungen zu der Gewissheit geführt, dass man mit seinem Depot alles richtig mache. Diese Zeit ist erstmal vorbei, von kurzfristigen Spekulationen oder Daytrading einmal abgesehen. Wer langfristig am Wachstum von Unternehmen partizipieren will, erfährt also weniger die Kurserfolge als "Belohnung", sondern sichere Dividenden. Anders gesagt: Man muss sich im Kopf vom Kurs ein wenig lösen.
Die große Unsicherheit wird sichtbar anhand der Tagesschwankungen. Im Nasdaq 100 etwa erlebten wir in diesem Jahr an bislang 21 von 87 Börsentagen Schwankungen gegenüber dem Vortag von mehr als 2,5 Prozent (siehe Grafik). "Das ist ein klares Stresssymptom", sagte Röhl. Übrigens: Sowohl die 25 besten (+6,6 Prozent bis +18,8 Prozent) als auch die 25 schlechtesten Tage dieses Jahrtausends (-6,5 Prozent bis -12,2 Prozent) stammen aus den Krisenjahren 2000-02, 2008-09 und 2020. "Die Quote der Stresstage erinnert an diese Zeit", so Röhl.

Es ist also eine Grundsatzfrage, die sich Anleger stellen müssen: Will ich an kurzfristigen Kurssteigerungen partizipieren ("Multiple Expansion") – oder langfristig an Unternehmen beteiligt sein? "Bei letzterem muss man eher wie ein Immobilieninvestor denken", so Röhl. Wichtig seien realwirtschaftlichen Faktoren – und die Dividende.
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