Sie kamen zu viert und waren verzweifelt. Tochter, Mutter, Großmutter, Urgroßmutter. Und wollten Geld. Für Pakete und Päckchen, allesamt in buntes Geschenkpapier eingeschlagen und hübsch beschleift. Verwandte und Freunde hatten sie zur Hochzeitsfeier der Tochter mitgebracht. Deren Bräutigam jedoch war in der Nacht zuvor tödlich verunglückt. Nun mussten sie das teure Fest, das nicht mehr abzusagen war, bezahlen. Detlev Fritzsch zeigt auf seinen Unterarm: "Sehen Sie", sagt er, "die krieg ich immer noch, wenn ich dran denke." Gänsehaut.
Er half den Frauen damals beim Auspacken. Porzellangeschirr, Gläser, Bettwäsche, Tagesdecken. Normalerweise hätte er sie mit dem Krempel wieder nach Hause schicken müssen. Hat er aber nicht. Dabei kann sich einer wie er Sentimentalitäten nicht leisten. Denn Detlev Fritzsch, 48, arbeitet im zweitältesten Gewerbe der Welt. Er ist Pfandleiher. Kein finsterer Wucherer, wie ihn etwa Charles Dickens beschrieb, keiner, der mit krummem Rücken im Halbdunkel auf seine Opfer wartet und mit langen Spinnenfingern nach deren letzten Habseligkeiten greift. Fritzsch, helle Hose, weißes Polo-Shirt, lächelt gequält: "Das ist ein Klischee, mit dem wir leider noch heute zu kämpfen haben."
Bereits im achten Jahrhundert vor Christus sollen in Babylon Kredite gegen Faustpfand gegeben worden sein. Im Mittelalter betrieben Mönche Pfandleihe, um Wucherern die Geschäftsgrundlage zu entziehen. Das erste öffentliche Pfandhaus in Deutschland entstand Ende des 16. Jahrhunderts. Weil daneben auch die Zahl privater Anstalten sprunghaft anstieg, musste 1787 für sämtliche preußische Staaten das Pfand- und Leihreglement erlassen werden.
Zu Detlev Fritzsch kommt, wer schnell und ohne große Formalitäten einen finanziellen Engpass überbrücken muss. Er zahlt bis zu 80 Prozent des Wiederverkaufswerts auf ein Pfand, das der Kunde bei ihm lässt und das innerhalb von vier Monaten wieder ausgelöst werden kann - durch Rückzahlung des Pfandkredits. Zusätzlich fallen Zinsen von einem Prozent pro Monat an und eine Aufwandsvergütung - zum Beispiel 6,50 Euro bei einem Darlehen von 300 Euro. Alles gesetzlich festgelegt in der "Verordnung über den Geschäftsbetrieb der gewerblichen Pfandleiher" von 1961, die in jedem Leihhaus ausgehängt werden muss. Kein Bonitätsnachweis ist erforderlich, keine Verdienstbescheinigung - nur Personalausweis oder Pass.
Mehr Infos im Internet
* Die Homepage von Detlev Fritzsch - mit vielen Tipps und Infos: www.leihhaus-berlin.de;
* Homepage des Zentralverbands des Deutschen Pfandkreditgewerbes e. V. - mit Adressen aller angeschlossenen deutschen Pfandleiher: www.pfandkredit.org und
* die Verordnung über den Geschäftsbetrieb der Pfandleiher www.aap-k.de/pfandlvo.pdf
Rund 200 solcher Institute gibt es heute in Deutschland, allein 21 in Berlin. Und das Geschäft brummt. Im vergangenen Jahr stieg der Umsatz der Pfandleiher um elf Prozent. Immerhin 1,1 Millionen Bundesbürger verpfändeten 2,1 Millionen Wertsachen für 440 Millionen Euro. Nicht nur notorisch klamme Zeitgenossen, die ihren Dispo überzogen haben. Auch gut situierte Mittelschichtler, die unkomplizierte Zwischenfinanzierungen suchen. Und zunehmend Kleinunternehmer, die kurzfristig Geld brauchen, bis säumige Auftraggeber endlich ihre Rechnungen gezahlt haben. "Wir haben auch Kunden", sagt Detlev Fritzsch, "die bei uns ihre teure Kameraausrüstung einstellen, bevor sie in Urlaub fahren." Weil die Gerätschaft hier besser verwahrt ist als daheim und obendrein versichert.
Leihhaus am Berliner Wittenbergplatz, Ansbacher Straße 18. Detlev Fritzsch hat es Anfang 1998 im ersten Stock eines schmucklosen 60er-Jahre-Baus eröffnet. Da war dem Diplomingenieur für Elektrotechnik gerade von Siemens gekündigt worden. Und er auf der Suche nach einem neuen, aber krisensicheren Job. Im Pfandkreditgewerbe kannte er sich aus, weil er schon während seines Studiums auf Pfandauktionen Unterhaltungselektronik ersteigert und sie im Bekanntenkreis mit Gewinn weiterveräußert hatte.
Das Inventar für sein Leihhaus kaufte er sich damals noch von seinem Ersparten zusammen, weil die Banken keinen Konkurrenten finanzieren wollten. Die gebrauchte Kassenanlage zum Beispiel stammt aus einer Berliner American-Express-Filiale, wo ihm eine hübsche Angestellte auffiel. Die ist heute seine Frau. Bettina Fritzsch arbeitet immer noch für American Express, hat jetzt aber ein Büro im Haus Ansbacher Straße 18. Hier steht ein Monitor, auf dem sie jederzeit sehen kann, was im Eingangsbereich der Pfandleihe ihres Mannes passiert. Rund 80 Kunden werden dort pro Tag bedient, vor Weihnachten und vor der Ferienzeit sind's noch mehr.
Heute ist Herr Kloschik mal wieder da. Ein Stammkunde. Wie der junge Mann mit dem Pferdeschwanz, der noch vor Herrn Kloschik dran ist, eine Geige auspackt und geduldig wartet, bis das Instrument taxiert ist. 31 Euro. "Okay", sagt der junge Mann und bekommt seinen Pfandschein. Detlev Fritzsch klebt einen Lagerzettel auf den Geigenkasten und zahlt die 31 Euro aus. Herr Kloschik legt eine Kette mit Medaillon in die Durchreiche. Das Schmuckstück hat er hier schon oft versetzt. 62 Euro, wie immer. Damit löst er seine Trauringe aus, deren Leihfrist bald abgelaufen wäre, und behält noch was übrig. Hinter ihm drängelt bereits ein Mittdreißiger, der mit zwei Kindern hier ist und seinen Computer abholen will. Unten steht schließlich ein Taxi, die Uhr läuft.
Detlev Fritzsch und Herr Kloschik duzen sich. Sie kennen sich schon seit Jahren. Zu Weihnachten bringt Herr Kloschik, der knapp 600 Euro netto verdient, immer eine Tafel Merci-Schokolade vorbei. Er ist chronisch krank und lebt mit seiner arbeitslosen Frau auf 43 Quadratmetern. "Man hat halt immer weniger im Geldbeutel", sagt er. Praxisgebühr, Medikamentenzuzahlung - einer wie er muss mit dem Cent rechnen. Bei seinen Nachbarn mag er sich nichts leihen: "Ich hab schließlich 'ne Führungsposition." Herr Kloschik ist Hausmeister auf Teilzeit.
Auch Larry Lee Wheeler, 40, ist Stammkunde, seit über zwei Jahren. Der Berliner mit amerikanischem Vater beleiht immer wieder seinen Ohrring mit dem kleinen Diamanten. 153 Euro bekommt der arbeitslose Kellner, weil er ein Zertifikat des Herstellers vorlegen kann. Wenn er das Schmuckstück nach drei Monaten wieder auslöst, wird er, wie jedes Mal, 24,08 Euro für Zinsen und Gebühren aufwenden müssen. "Das ist in Ordnung", sagt er. Dafür bleibt er Eigentümer des Ohrrings, macht keine Schulden und taucht in keiner Kreditauskunft wie der Schufa auf. Im Schnitt gehen 200 bis 250 Euro pro Pfand durch die Geldschleuse - nicht nur bei Fritzsch, sondern bundesweit. Kann aber auch vorkommen, dass es mal eine fünfstellige Summe ist. Oder nur zehn Euro - etwa für eine Stammkundin, die dringend Windeln für ihr Baby braucht.
Am liebsten wird nach wie vor Schmuck in den deutschen Pfandhäusern beliehen. Auch von Detlev Fritzsch: "Schmuck braucht wenig Platz und hat viel Wert - ganz einfach." Er führt uns in seine Lagerräume. Regale bis zur Decke, die Pfänder ordentlich verstaut und verpackt. Musikanlagen, Computer, DVD-Geräte, Fotoapparate, Kisten und Kartons mit Modelleisenbahnen und Tafelsilber. Früher nahmen die Pfandleiher noch Kleidung an, Pelzmäntel und Fräcke. Heute nicht mehr. Auch für hochwertige technische Geräte gibt es nur Geld, wenn sie vollständig sind: "Ein PC-Tower ohne Bildschirm, Netzstecker und Bedienungsanleitung geht nicht." Das gilt ebenso für Handys ohne Aufladegeräte.
Ganz hinten stehen die Tresore, gepanzerte Trümmer, in denen schmale Holzkästen aufgereiht sind, die er selbst zusammengeleimt hat. Darin, verpackt in Plastiksäckchen und beklebt mit Lagerzetteln, die wertvollsten Pfänder des Hauses: Königsketten, Ohrringe, Goldbarren, Uhren, Münzen, Ringe. Und Bargeld, das zur Auszahlung bereitliegt.
Deshalb ist Sicherheit - nicht nur bei Fritzsch, sondern in jedem Pfandhaus - ein wichtiges Thema. Das fängt schon am Eingang an: Tür aus Edelstahl, dahinter ein Rollgitter. Wie in einer Bank stehen die Kunden vor schusssicherem Panzerglas und versteckten Videokameras, die Türen lassen sich nur mit Zahlencodes öffnen. Warenschleusen und Durchreichen sollen verhindern, dass Unbefugte in den Geschäftsbereich eindringen können. Mitte Mai hatten vier Männer im Berliner Stadtbezirk Wedding ein Leihhaus überfallen - sie lauerten morgens einer Mitarbeiterin auf, gelangten so in die Geschäftsräume. Nicht erst seit dieser Raubtat dürfen Fritzschs Angestellte nur zu zweit das Institut öffnen und schließen.
Ein paar Häuserblöcke weiter ist eine Außenstelle des Pfandhauses - in einer angemieteten Tiefgarage. Nagelneue Autos stehen hier, auch gebrauchte. Schwere dunkle Limousinen mit merkwürdigen Verschlusslöchern an den Seiten der vorderen Kotflügel. "Hier waren früher die Stander drin", sagt Fritzsch, "das waren mal Staatskarossen." Die hat ein Kunde gekauft und erst mal beliehen, bis sich Käufer finden. Der Händler ist damit flüssig, um womöglich weitere Fahrzeuge zu erwerben, und gleichzeitig hat er sie hier sicher und versichert untergestellt. Denn auch Autos und Motorräder nimmt Fritzsch an. "Im Winter stehen hier fast nur Motorräder", sagt der Pfandleiher. Logisch.
Es läuft gut für Detlev Fritzsch. Im Frühjahr hat er sein zweites Leihhaus am Theodor-Heuss-Platz 6 aufgemacht. Eine großzügige Etage im ersten Stock eines Gebäudes, in dem die Dresdner Bank sitzt. Da die Räume vorher vom Geldinstitut genutzt worden waren, gehört ein riesiger Panzerschrank, 2200 Kilogramm schwer, zur Mietsache. Der mannshohe Tresor steht auf einer eigens errichteten Betonsäule, die im Untergeschoss des Hauses hinter der Käsetheke von "Kaiser's" im Fundament endet.
Auch hier Panzerglas, Lichtschranken, Videokameras und Türen, die sich nur mit Code öffnen lassen. Dahinter zeigt Detlev Fritzsch das Handwerkszeug eines Pfandleihers. Geeichte Waagen, Lupen, Pinzetten, Diamantprüfgeräte. Salpetersäuren und Schiefersteine, um den Goldgehalt zu messen. In der Handbücherei Schmuckkataloge und Uhrenmagazine, möglichst aktuell, und Taxlisten des Zentralverbandes des Deutschen Pfandkreditgewerbes e. V., in dem die meisten deutschen Pfandhäuser organisiert sind. Und der Computer, mit dem Fritzsch im Internet recherchiert, zu welchen Preisen gebrauchte Playstations oder Dell-Laptops zurzeit angeboten werden. Er unternimmt alles, um den korrekten Zeitwert herauszukriegen.
"Wir sind nicht nur Sachverständige für Schmuckstücke und Technik", sagt Detlev Fritzsch, "sondern gleichzeitig auch Privatbankiers." Das heißt: Er zahlt nicht nur Pfandkredite aus, er nimmt auch Kredite von Kapitalgebern an, die er ordentlich verzinst - zurzeit mit 4,5 Prozent bei einer Laufzeit von einem Jahr. Neben der zumeist hohen Eigenkapitaldecke und konventionellen Bankkrediten ist das die dritte Säule der Refinanzierung der Pfanddarlehen eines Leihhauses.
Auf einem Monitor sieht Fritzsch, dass ein neuer Kunde wartet. Ein junger Musiker, den er schon kennt. Osama Mahmod, 28, dessen Eltern aus Ägypten stammen, der in Berlin geboren und seit 14 Jahren deutscher Staatsbürger ist, will ein Sound-Modul versetzen. Detlev Fritzsch runzelt die Stirn, Osama Mahmod weiß, dass er dafür nicht viel bekommt. 25 Euro braucht er, obwohl das Teil mal 550 gekostet hat. Er kriegt 26 Euro. "Sehr nett", beurteilt Mahmod den Pfandleiher Fritzsch, "aber auch ein guter Geschäftsmann." Natürlich hätte er das Modul auch verkaufen und 200 Euro kassieren können. Nur: Dann würde es ihm nicht mehr gehören.
90 Prozent aller Pfänder - davon 80 bis 90 Prozent Schmuck, Uhren, Edelsteine, Münzen und Tafelsilber - werden innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Frist von höchstens vier Monaten wieder ausgelöst oder verlängert. Der Rest muss von einem öffentlich bestellten und vereidigten Auktionator versteigert werden.
Ein Vorurteil, das sich hartnäckig in der Öffentlichkeit hält, räumt Detlev Fritzsch gleich aus: dass Leihhäuser die Kundenpfänder zu gering taxieren, um sie hinterher zu weit höheren Preisen versteigern zu lassen. "Wir sind daran interessiert, dass die Pfänder wieder ausgelöst werden", sagt Detlev Fritzsch, "die Versteigerung bringt uns gar nichts."
<bYAus dem Erlös einer solchen Auktion darf das Leihhaus nämlich nur das Darlehen, die angelaufenen Zinsen und Gebühren und die anteiligen Versteigerungskosten behalten. Der Restbetrag, wenn er denn anfällt, steht dem früheren Eigentümer des Pfandgegenstandes zu, den er innerhalb von zwei Jahren geltend machen kann. Wenn er es nicht tut, geht der Betrag an den Fiskus.
Wenn bei einer Versteigerung, die öffentlich bekannt gegeben werden muss, ein Pfand nicht den kostendeckenden Zuschlag erhält, hebt der Pfandleiher selbst die Hand. Damit ist er neuer Eigentümer geworden und kann das Stück auf eigene Rechnung im eigenen Haus verkaufen. Viele Pfandleihen sehen deshalb mit ihren Schaufenstern und Vitrinen aus wie Juwelier- oder Elektronikläden.
Herr Kloschik übrigens, der Hausmeister, der am Wittenbergplatz seine Trauringe ausgelöst hat, hat sie dort auch gekauft - gebraucht natürlich. Und für einen guten Preis.