Ein großer elektronischer Zeitmesser im Zentrum der bulgarischen Hauptstadt Sofia zeigt noch gut 600 Tage bis zum EU-Beitritt des Balkanlandes an. Drei Viertel der Bulgaren befürworten die nach dem Sturz des Kommunismus ersehnte EU-Mitgliedschaft und erwarten den 1. Januar 2007 mit Ungeduld. Die meisten versprechen sich von der Europäischen Union ein besseres Leben im "Club der Reichen": Höhere Einkommen und Renten sowie Arbeitsmöglichkeiten in anderen EU-Staaten.
Zauberformel "EU-Milliarden"
"Wir sehen das gelobte Land schon am Horizont", freut sich Außenminister Solomon Passi. Schon vor der Unterzeichnung der Beitrittsverträge schwärmte er von den rund 44 Milliarden Euro, die die EU für Bulgarien und das Nachbarland Rumänien eingeplant hat. Politiker aller Parteien wiederholen jeden Tag die Zauberformel von den "EU-Milliarden".
Bulgarien braucht das EU-Geld, um wenigstens die zehn neuen EU-Staaten in ihrer Entwicklung aufholen zu können. Trotz eines Rekordwachstums von 5,6 Prozent im vergangenen Jahr liegt das Durchschnittsgehalt im Staatssektor bei umgerechnet 160 Euro. Jeder zweite Bulgare muss nach Gewerkschaftsangaben sogar mit weniger als 70 Euro im Monat auskommen. Damit gehört Bulgarien zu den ärmsten EU- Beitrittskandidaten.
Zustände wie in der dritten Welt
Im Sozial- und Gesundheitswesen herrschen teilweise Zustände wie in der Dritten Welt. Dazu kommt die bitter arme Minderheit der Roma mit Arbeitslosenquoten bis zu 90 Prozent bei einem Landesdurchschnitt von 13 Prozent. Bis zu 17 Prozent der türkischen Minderheit können nach den Worten ihrer eigenen Politiker "nicht lesen und schreiben".
Die verschleppte Justizreform ist aber der Stolperstein, der die Aufnahme in die EU um ein Jahr verzögern könnte. Im Beitrittsvertrag ist eine entsprechende Option enthalten, sollte Sofia die EU-Normen nicht erfüllen können. Dazu gehört auch ein effektives Justizsystem, um die organisierte Kriminalität und die weit verbreitete Korruption zu bekämpfen. Das Land gilt immer noch als Drehscheibe für Geldfälscher, sowie Drogen- und Frauenhändler.
Attraktiver Investitionsstandort
Rechtssicherheit fordern auch die Investoren aus dem Ausland. Sie haben bislang acht Milliarden Euro in Bulgarien angelegt und betrachten das Land als "attraktiven Standort" mit qualifizierten Arbeitskräften und günstigem Lohnniveau. Aussichtsreiche Bereiche sind die gesamte Infrastruktur, die Bauindustrie sowie der Fremdenverkehr am Schwarzen Meer und in den Skiorten der südlichen Gebirge. Kein Experte wagt es, jetzt schon zu sagen, wie viele Unternehmen dem Konkurrenzdruck der EU standhalten könnten. Am schwierigsten dürften es Branchen wie die Nahrungsindustrie haben, weil die EU-Vorschriften kostenträchtige Verbesserungen voraussetzen.
Mit der Aufnahme Bulgariens würde die Europäische Union bis zur Grenze des umstrittenen Beitrittskandidaten Türkei heranrücken. Die EU würde um 110.000 Quadratkilometer und 7,7 Millionen Menschen wachsen. Mit einer Parlamentswahl soll am 25. Juni darüber entschieden werden, welche Partei die Bulgaren ins "gelobte Land" EU führen wird. Die mit der Türkenpartei regierende Nationale Bewegung von Ministerpräsident Simeon Sakskoburggotski, dem früheren König, liegt derzeit mit 13,9 Prozent auf dem zweiten Platz in der Gunst der Wähler nach den oppositionellen Sozialisten (Ex-KP, 27,3 Prozent).