Frau Fischer Boel, die Bauern in Deutschland stecken in der Krise; vor allem Milch ist auf dem Markt kaum noch etwas wert. Wird der Ernst der Lage in Brüssel überhaupt erkannt?
Ich weiß genau, was im Augenblick in den Bauern vorgeht, nicht nur in Deutschland, auch in anderen Ländern. Viele sorgen sich um die Zukunft, insbesondere die jungen Landwirte, die gerade erst in ihre Höfe investiert haben und die Kosten nicht mehr bezahlen können.
Viele Bauern machen Brüssel für ihre missliche Lage verantwortlich.
Zu Unrecht. Wir tun alles, um die Auswirkungen des Preisverfalls abzufedern.
Den Eindruck haben wir nicht. Die EU hat die Milchquote, die bislang die Melkmenge künstlich eindämmt, erneut erhöht. Kein Wunder, dass zu viel Milch auf den Markt schwemmt und die Preise fallen.
Es war nicht meine Idee, die Quote schon 2008 zu erhöhen. Aber viele Mitgliedsländer, auch Deutschland, haben uns zu diesem Schritt gedrängt. Als die Lebensmittelpreise im vergangenen Jahr durch die Decke gingen, hat unter anderem die deutsche Regierung Druck gemacht, damit wir die Beschränkungen noch schneller auflockern. Ich erinnere mich noch an die reißerischen Schlagzeilen in vielen Zeitungen: Wer kann das bezahlen? Die Sorge galt da weniger den Bauern als den Verbrauchern. Aber die Milchquote ist ohnehin nicht das Problem: Schuld an der Situation ist in Wahrheit die gefallene Nachfrage. Die Menschen kaufen weniger Milchprodukte, obwohl die Preise mittlerweile wieder gefallen sind. Der niedrige Rohmilchpreis kommt bei Verbrauchern allerdings auch nicht in vollem Umfang an.
Wer profitiert von den Preisstürzen?
Ich habe eine Vermutung, wer da den Rahm abschöpft. Aber bevor ich mich dazu äußere, brauche ich Beweise. Vor kurzem haben wir eine Untersuchung in Auftrag gegeben, um die gesamte Wertschöpfungskette der Milch unter die Lupe zu nehmen, vom Bauernhof bis zum Supermarkt. Während die Rohmilchpreise buchstäblich abgestürzt sind, wurden die Milchprodukte in den Supermärkten gerade mal um zwei Prozent billiger. Da stimmt etwas nicht.
Also sind die Discounter Schuld an der Misere, die ihre Einkaufsmacht ausspielen?
Die großen Supermarktketten verfügen tatsächlich über eine enorme Marktmacht.
In den letzten Jahren mussten viele Bauern ihre Höfe aufgeben. Trotzdem sind die Milchmengen nicht gesunken. Ist Milch - aller Klagen zum Trotz - für die Großen immer noch ein gutes Geschäft?
Nein. Die Preise liegen so tief, dass auch die großen Bauern mit Milch kein Geld verdienen. Die Landwirte bleiben im Geschäft, weil sie hoffen, dass die Preise irgendwann wieder klettern.
Leiden nicht vor allem die kleinen Milchbauern in den Bergen unter der Krise?
Natürlich ist Viehhaltung in den Bergen schwieriger als in den Ebenen. Aber diese Höfe arbeiten mit niedrigen Kosten, meist sind es Familienbetriebe. Die EU stützt sie mit speziellen Hilfsprogrammen. Dagegen haben die Großbauern etwa in Nord- und Ostdeutschland oft hohe Lohnkosten. Wenn die großen Höfe nicht überleben, verlieren gleich 20 oder 30 Menschen ihren Job. Soziale Konsequenzen sind da also sehr schnell spürbar.
Lesen Sie auf der folgenden Seite, warum italienische Bauern deutlich mehr Geld pro Liter Milch verdienen
Seit Jahrzehnten ist fast durchgehend zu viel Milch auf dem Markt. Wird sich das je ändern lassen?
Die Bauern reduzieren ihre Produktion ja schon. Ich bin zudem davon überzeugt, dass es für europäische Erzeuger in China und Indien neue Absatzchancen gibt. Dort wächst eine Mittelschicht heran, die mehr vom westlichen Lebensstil haben will.
Bislang zumindest hat sich die vage Hoffnung auf einen Milch-Boom in Fernost nicht erfüllt. Statt neuer Absatzmärkte entstehen wieder Butter- und Milchpulverberge; die Exporte werden von der EU subventioniert. Das ist ein Rückfall in die Agrarpolitik von gestern.
Es stimmt, wir haben fast 700 Millionen Euro für Stützungskäufe und Exportsubventionen ausgegeben. Das sind Notmaßnahmen, um die Überproduktion vom Markt zu nehmen. Der Beschluss, ab 2013 alle Exportsubventionen zu streichen, bleibt davon unberührt.
Auf der einen Seite möchten Sie Märkte liberalisieren, auf der anderen spielen Sie auf der alten Subventionsklaviatur. Wie passt das zusammen?
Sollen wir in Europa untätig zusehen, wie die USA ihre Bauern vor Einkommensausfällen schützen und Überschussproduktion als Lebensmittelhilfe auf dem Weltmarkt verteilen? Im Vergleich dazu fallen unsere Markteingriffe zurückhaltend aus. Viele EU-Mitgliedsstaaten, vor allem Frankreich und Deutschland, machen mächtig Druck, die Exportsubventionen noch weiter zu erhöhen.
Wenn der Milchmarkt auf absehbare Zeit ohnehin nicht ohne staatliche Eingriffe auskommt, warum bleibt die EU dann nicht bei ihrem Quotensystem und begrenzt die Produktionsmenge?
Soll ich etwa festlegen, wie hoch die Milch-Nachfrage des kommenden Jahres sein darf? Das ist Planwirtschaft, die lehne ich ab. Das Quotensystem läuft 2015 aus, und das ist richtig so. Im Übrigen sehnen sich heute allenfalls Deutschland, Slowenien, Österreich und Frankreich nach der Quote zurück. Dagegen würden die niederländischen oder die italienischen Bauern liebend gern noch mehr produzieren, als sie es heute ohne Strafzahlungen dürfen.
Wieso schafft der italienische Bauer, was der deutsche Landwirt nicht kann: mit Milch Geld zu verdienen?
In Italien sind Milchprodukte wie etwa Käse hochwertiger als anderswo, das rechnet sich auch für die Bauern. Die Landwirte erhalten dort derzeit bei 35 bis 37 Cent für einen Liter Milch - 15 Cent mehr als etwa ein norddeutscher Bauer.
Unser Problem ist also der Billigkäse?
Überall, wo stark auf die Produktion von Käse-Massenware und auf Milchpulver und Butter gesetzt wurde, stecken die Bauern in der Klemme.
In den letzten zehn Jahren hat die EU rund 500 Milliarden Euro in die Subventionierung der Landwirtschaft gesteckt. Eine traurige Bilanz der Politik.
Man muss solche Zahlen in Relation sehen: Für Agrarförderung geben die EU-Länder rund 0,4 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts aus; für ihre Verteidigungshaushalte veranschlagen sie das Vierfache. Ich plädiere weiß Gott nicht für mehr Agrargelder. Es werden hier aber auch keine Milliarden aus dem Fenster geschmissen.
Ohne Subventionen wird die Landwirtschaft nie auskommen?
Direktzahlungen wird es wohl weiter geben müssen. Mein Ziel ist es, diese Gelder zunehmend an den Beitrag der Bauern zu knüpfen, den diese zum Gemeinwohl leisten: an Umweltschutz, landschaftliche Entwicklung, artgerechte Tierhaltung und Lebensmittelsicherheit. Subventionen sollen kein verschenktes Geld sein.
Die Bauern leben künftig von Landschaftspflege statt von Lebensmittelproduktion?
Die Nahrungsproduktion bleibt ihr Haupterwerb. Daneben wird die Erzeugung erneuerbarer Energien eine wichtigere Rolle spielen, aber auch die Pflege brachliegender Flächen. Ich glaube nicht, dass die Menschen es gut fänden, wenn Landschaften einfach verwildern. Ja, Bauern werden auch Landschaftsgärtner sein.