'Europäische Staatsangehörigkeiten» steht in großen Lettern auf dem Transparent über einer Straße im Zentrum von Buenos Aires. Das sind magische Wörter für ein Volk, das in Scharen sein Land verlassen will. Hinter der angegebenen Telefonnummer steckt eine Agentur, die Argentiniern mit Anspruch auf einen europäischen Pass bei den Botschaftsformalitäten hilft.
Der deutsch-argentinische
Rentner Wolfgang Metsch bearbeitet für die Agentur die wöchentlich rund fünfzig Anfragen von Deutschstämmigen. Er füllt Tag für Tag Formulare aus und fordert Geburts-, Sterbe- oder Scheidungsurkunden der Vorfahren an. Für die Auswanderer hat er aber nur ein müdes Lächeln übrig. »Die Leute glauben, dass einem dort die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Ich glaube aber, dass die meisten, die hier groß geworden sind, überhaupt nicht wissen, was richtige zielbewusste Arbeit ist.«
Viele scheinen es
dennoch zu wissen und gehen dahin, wo es Arbeit gibt. Das ehemalige Immigrantenland Argentinien ist heute ein Land der Auswanderer. Die Schlangen vor den Botschaften Spaniens und Italiens werden immer länger. Statistiken darüber, wie viele Argentinier das Land seit Beginn der schweren Wirtschaftskrise vor vier Jahren bereits verlassen haben, gibt es nicht. Die Zeitung »La Nación« schätzt, dass allein in den vergangenen zwei Jahren rund 140.000 Argentinier ihrem Land den Rücken gekehrt haben.
Doch in Wahrheit
dürften es wohl viel mehr sein. Tausende leben illegal in Nordamerika und Europa, weshalb Spanien schon einmal laut über eine Visumspflicht für Argentinier nachgedacht hat. Der Großteil der Auswanderer will im spanischen Mutterland egal mit welchem Pass eines EU-Mitgliedsstaates Fuß fassen. Es ist vor allem die rasant verarmende argentinische Mittelschicht, die dem Land den Rücken kehrt - gut ausgebildete Leute, die keine Arbeit mehr haben. Auch Lia Amartino flieht lieber ins Ungewisse, als im Elend zu versinken. In der Wohnung der 51-Jährigen steht alles zum Verkauf. Selbst die alten Christbaumkugeln tragen Preisschildchen - 30 Centavos das Stück (8 Cent). Immer wieder klingeln Leute an der Haustür, die durch eine Anzeige von der Wohnungsauflösung erfahren haben und stöbern in Lias Hab und Gut.
Alles muss
raus, im Flugzeug sind nur 20 Kilo Gepäck gestattet. »Ich wollte nie weg aus meinem Land. Aber ich habe 25 Jahre hart gearbeitet und stehe jetzt vor dem Nichts. Wenn einem das Land, in das man so viel investiert hat, nichts zurückgibt, muss man eben gehen«, sagt Lia, und die Tränen ersticken ihre Stimme.
Sie hatte eine
kleine Näherei, ihr Mann war Unternehmer und stellte täglich 2.500 Schmuckblechdosen her. Die beiden lebten gut, hatten sogar eine kleine Ferienwohnung an der Küste. Doch dann ging alles ganz schnell. Die Firma ging im Oktober pleite, und auch für Näharbeiten brach der Markt in kürzester Zeit zusammen. Jetzt sind beide arbeitslos und leben von Rücklagen.
Über Teneriffa
will sie in den Geburtsort ihres italienischen Urgroßvaters reisen und dort einen italienischen Pass beantragen. 90 Tage hat sie Zeit, dann läuft ihr Touristenvisum ab. Wenn sie bis dahin keinen Pass oder eine feste Arbeitsstelle vorweisen kann, muss sie mit ihrem Mann wieder zurück nach Argentinien.
Viel einfacher
haben es die rund 200.000 argentinischen Juden. Die Übersiedlung nach Israel, die so genannte Alia, ist einer der Grundpfeiler des jüdischen Staates und wird den Einwanderern durch eine kostenlose Wohnung, intensive Betreuung, einen Sprachkurs und finanzielle Hilfen im ersten halben Jahr versüßt. Jeden Dienstag steigt eine Gruppe von bis zu 100 Juden in Buenos Aires ins Flugzeug Richtung Tel Aviv - drei Mal so viele wie noch vor einem Jahr. Sie beginnen lieber ein neues Leben im Krisenherd Nahost, als weiter unter der argentinischen Misere zu leiden.
Markus Rimmele