"Während ich mich durch die Fälle und Materialien hindurchwühlte, war ich immer wieder verblüfft über die Anstrengungen, die reiche Versicherungsgesellschaften auf sich nehmen, um kleine Leute aufs Kreuz zu legen."
(John Grisham, "Der Regenmacher")
Heiko Stolle arbeitet als Fliesenleger in der schwäbischen Gemeinde Löchgau. Historisches Fachwerk und eine rege Neubauplanung prägen Ort und Auftragslage, und lange liefen die Geschäfte prächtig. "Ich habe von montags bis samstags durchgeschuftet", erzählt der 33-Jährige. Bis im Frühjahr 2016 das rechte Knie Probleme bereitete. Ein Gelenkschleimbeutel hatte sich entzündet. Stolle konnte sich nicht mehr hinknien. In seinem Gewerbe bedeutet das den Totalausfall. Auch nach einer Operation, so viel war klar, würde er monatelang pausieren müssen.
Versicherung gegen Berufsunfähigkeit: Knapp 17 Millionen Policen halten die Deutschen
Für solche Notsituationen gibt es eigentlich die Berufsunfähigkeitsversicherung. Sie soll bei lang andauernden Krankheiten den Verdienstausfall zumindest teilweise ersetzen. Sie gilt als eine der wichtigsten privaten Absicherungen überhaupt. Knapp 17 Millionen Policen halten die Deutschen.
Stolles Vertrag bei der Württembergischen trägt die Nummer 05-0742990-59. Nur nützt ihm der bisher nichts. Der Handwerker fühlt sich wie in einem Krimi des US-Autors John Grisham. Dort kämpft ein Anwalt gegen einen Versicherungskonzern, der mit der immer gleichen Methode alle Ansprüche zurückweist. "Man zeigt ihnen seitenweise juristisches Kauderwelsch und redet ihnen ein, dass sie nur geglaubt hätten, sie wären versichert" , heißt es dort. Im sehr realen Fall des Fliesenlegers Stolle hat die Württembergische den Vertrag angefochten und lehnt eine Zahlung ab.
So geschieht es auch in Tausenden anderen Fällen. Jedes Jahr. Nach den aktuellsten Erhebungen der Ratingagentur Morgen & Morgen zahlten 2014 nur neun von 37 Unternehmen anstandslos, also in mindestens 80 Prozent der Schadensfälle. Darunter sind die Allianz, mit 2,9 Millionen Verträgen der Marktführer, und die Axa. Am seltensten zahlten nach dem Ranking DEVK, Familienfürsorge, HUK und Nürnberger, die gerade mal etwa zwei Drittel der Leistungsanträge akzeptieren – jeden dritten Fall also nicht. Anonymisierte Umfragen bringen noch schlechtere Quoten zutage, vereinzelt werden mehr als die Hälfte aller Ansprüche abgelehnt.
Auch der Bund der Versicherten beklagt ein "Marktversagen"
Die Branche hält so etwas am liebsten geheim. Der stern hat versucht, aktuelle Leistungsdaten großer Anbieter zu erhalten. Von acht Unternehmen lehnten vier ab, darunter die Ergo, über die auch in den einschlägigen Branchenratings keine Zahlen zu finden sind. Zwei verweisen auf ältere Werte. Allein Allianz (Leistungsquote 81 Prozent) und Alte Leipziger (90 Prozent) lieferten Zahlen für 2016.
Die Zurückhaltung im Versicherungsfall und die mangelnde Transparenz sind Teil des Systems. "Die Verträge der Versicherer sind so unbestimmt und unverständlich und die Entscheidung, ob gezahlt wird oder nicht, so willkürlich – da läuft etwas massiv falsch", sagt Gerhard Schick, der finanzpolitische Sprecher der Grünen. Er fordert eine Reform der Berufsunfähigkeitsversicherung, deren Ausgestaltung bislang der Wirtschaft überlassen wurde. "Hier muss der Staat den Markt völlig neu aufstellen, damit die Leistungskriterien klar werden." Auch der Bund der Versicherten beklagt ein "Marktversagen".
Die Württembergische, die Heiko Stolle absichern sollte, schneidet mit einer Leistungsquote von 83 Prozent noch vergleichsweise zuverlässig ab. 2000 Euro monatlich versprach sie Stolle für den Notfall. Ein Makler aus dem Nachbarort hatte ihm die Police empfohlen. Da sich die beiden kannten, überließ der Fliesenleger dem Makler das Ausfüllen des Antrags. "Irgendwas mit der Gesundheit?", fragte der. "Nein, fit wie immer" , will Stolle gesagt haben.
"Irgendwas mit der Gesundheit?", "Nein, fit wie immer."
Das kommt ihn nun teuer zu stehen. Die Württembergische behauptet, Stolle habe absichtlich Angaben zu seiner Gesundheit verschwiegen und den Konzern so "arglistig" getäuscht. "Wie wir jetzt nachträglich erfahren haben, waren Ihre Angaben leider nicht vollständig", heißt es in der Ablehnung. Bei Kenntnis der Krankenakte "hätten wir den Versicherungsschutz ... nicht bieten können".
Klar ist: Die Gesundheitsfragen bei Vertragsabschluss sind eines der größten Risiken für die Verbraucher. Versicherer können vom Vertrag zurücktreten, wenn gravierende Vorerkrankungen verheimlicht wurden. Grisham schreibt dazu in seinem Krimi: "Zur Politik der Gesellschaft gehört, was als 'nachträglicher Haftungsausschluss' bezeichnet wird, eine anrüchige, aber nicht illegale Praxis."
Heiko Stolle räumt ein, allzu lässig über die Gesundheitsfragen hinweggegangen zu sein. Doch dahinter habe keine böse Absicht gestanden. So war bei einem Gesundheitscheck eine Muskelverspannung im Nackenbereich diagnostiziert worden, die im Vertrag fehlt. Zudem ließ er ein Muttermal prophylaktisch entfernen, ohne Befund. Sein Arzt klassifiziert das als "einmalige kurzfristige gesundheitliche Befindlichkeitsstörung ohne Krankheitswert". Als Zipperlein also. Doch die Württembergische bleibt hart. Es sei "unerheblich, ob es sich um eine gravierende/ bleibende Beeinträchtigung" handelte oder nicht. "Des Weiteren obliegt die Bewertung, ob es sich um einen gravierenden oder belanglosen Umstand handelt, uns."
Verbraucheranwälte kennen die Abwehrmechanismen der Branche: Einige Versicherer fechten im Leistungsfall jeden Vertrag an, sollten Angaben lückenhaft gewesen sein – unabhängig davon, ob eine Vorerkrankung mit dem angezeigten Handicap in Verbindung steht. Rechtens ist das nicht unbedingt. In jedem Fall aber sollten Kunden alle früheren Behandlungen angeben, am besten unterstützt durch die Krankenakte vom Arzt. Eventuell steigen so die Prämien, aber das ist besser, als später keine Leistungen zu erhalten.
"Das sind zum Teil dramatische und komplizierte Fälle"
Günter Hirsch hat Erfahrung mit Vertragsanfechtungen. Er war Präsident des Bundesgerichtshofs, des höchsten deutschen Straf- und Zivilgerichts. Heute ist er Versicherungsombudsmann und soll Konflikte außergerichtlich lösen. "Das sind zum Teil dramatische und komplizierte Fälle", sagt er, "denn nicht jede verschwiegene Behandlung löst eine Vertragsauflösung aus." So spielt sehr wohl eine Rolle, ob Angaben fahrlässig oder vorsätzlich unterblieben. Und auch auf die Schwere der Erkrankungen kommt es an: Nicht jeder Schnupfen oder jede Muskelzerrung zeitigt Folgen.
Hirsch beklagt zudem die ungleiche Machtverteilung im Streitfall – er nennt das "strukturelle Asymmetrie". Typischerweise stehen dem Versicherungsnehmer ein Milliardenkonzern und eine Phalanx von Anwälten gegenüber. In Köln, München und Nürnberg, den Standorten der Versicherer, haben sich Kanzleien auf das Geschäft mit der Leistungsabwehr spezialisiert. Schon ihre Briefe wirken einschüchternd. Laut einer Erhebung der Beratungsfirma PremiumCircle geben 91 Prozent aller Betroffenen auf, wenn die Leistung abgelehnt wird; nur die wenigsten klagen.
Dass die Arbeitskraft überhaupt privat abgesichert werden muss, war nicht immer so. Früher fiel die Berufsunfähigkeit in die Zuständigkeit der Rentenversicherung. Erst unter der rot-grünen Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder wurde der Schutz privatisiert. Nur wer vor dem 2. Januar 1961 geboren ist, genießt noch heute gesetzlichen Schutz. Jüngeren bleibt im Ernstfall lediglich eine kleine Erwerbsminderungsrente, sollten sie nahezu gar keiner Arbeit mehr nachgehen können. Private Berufsunfähigkeitsversicherungen hingegen nehmen die zuletzt ausgeübte Tätigkeit zum Maßstab – und zahlen meist ab einer Einschränkung von 50 Prozent. So war es gedacht. Doch die Bilanz nach anderthalb Jahrzehnten fällt ernüchternd aus. Nur gut ein Drittel der 43 Millionen Berufstätigen in Deutschland verfügt über eine private Absicherung. Vor allem Handwerker können sie sich kaum leisten. Die Tarife werden nach individuellem Schadensrisiko bemessen: Ein Schreiner muss oft Tausende Euro im Jahr für einen adäquaten Schutz bezahlen, während eine junge Diplomkauffrau für ein Rentenversprechen von 2000 Euro im Monat laut Stiftung Warentest jährlich nur 768 Euro aufbringen muss. Das "bestehende Modell" habe sich für viele "als untauglich erwiesen", urteilt darum der Bund der Versicherten.
"Die Unternehmen können so nach Opportunität entscheiden, ob sie die Leistung erbringen oder ablehnen"
Bereits die Vertragsbestimmungen bringen Verbraucher in eine denkbar schlechte Position. Laut PremiumCircle sind in den Policen der Konzerne insgesamt 123 unscharfe oder unverbindliche Begriffe und Formulierungen versteckt, die im Zweifel zulasten der Versicherten ausgelegt werden können. So werden stets "ärztliche Nachweise" des Beeinträchtigungsgrads gefordert – die Zahl der Gutachten aber bleibt meist unlimitiert, "Ein Versicherer kann quasi nach Belieben neue Atteste anfordern oder in Auftrag geben und das Prozedere so ewig in die Länge ziehen", sagt Claus-Dieter Gorr von PremiumCircle. Formulierungen wie "altersentsprechend" oder "zumutbar" seien ebenfalls heikel. "Die Unternehmen können so nach Opportunität entscheiden, ob sie die Leistung erbringen oder ablehnen."
Befragt nach ihrem Leistungsverhalten mochten nur 15 von über 60 Unternehmen den Beratern Zahlen liefern. Es zeigt sich: Die Bearbeitungsdauer der Fälle schwankt stark, einzelne Versicherer lassen sich mehr als sieben Monate Zeit. Außerdem erhalten die wenigsten Betroffenen tatsächlich Geld bis zum Rentenalter. Durchschnittlich zahlen die Versicherer nur sechseinhalb Jahre, denn sie unterstellen einen Genesungsprozess und lassen die 50-Prozent-Schwelle immer wieder neu überprüfen.
Neben den Angaben beim Versicherungsabschluss liegt hier das zweite große Risiko für Verbraucher: in der Frage nach dem Grad der Berufsunfähigkeit. Für die Versicherer sei das "der wesentliche Ablehnungsgrund", teilte die Bundesregierung gerade auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen mit.
Für eine Leistungsverweigerung reicht es, wenn ein alternativer Job – "abstrakt" – vorstellbar ist
Dies erlebte auch Nicole Soller. "Ich hatte Stiche im ganzen unteren Rücken", erzählt die Krankenschwester. 2010 klappte sie während ihrer Schicht zusammen. Eine Fehlstellung der Lendenwirbel, entdeckten Ärzte. Ein Gutachten attestiert "belastungsabhängig tief sitzende Kreuzschmerzen". Soller darf nicht mehr schwer tragen oder heben. Nur ist das in der Pflege unvermeidlich. Die Klinik kündigte ihr, Soller befand sich noch in der Probezeit.

Heute sitzt die 40-Jährige neben ihrem Mann auf dem Sofa und erzählt von ihrem "zermürbenden" Rechtsstreit mit der Nürnberger. Ihr Mann, ein freier Versicherungsmakler, verkaufte ihr die Police einst selbst. "Ich dachte, das sei ein gutes Produkt", sagt er. Doch er übersah einen Passus, der Versicherte gezielt ins Abseits drängt – die "abstrakte Verweisung". Sie befreit den Konzern von Zahlungspflichten, wenn der Versicherte einer anderen sozial ebenbürtigen Tätigkeit nachgehen könnte. Ob der Arbeitsmarkt eine solche Stelle hergibt, ist egal. Für eine Leistungsverweigerung reicht es, wenn ein alternativer Job – "abstrakt" – vorstellbar ist.
Die Nürnberger behauptete das. Die eingeschränkte berufliche Leistungsfähigkeit Sollers zweifelt sie nicht an. Es sei aber aus ärztlicher Sicht "durchaus ein vollschichtiges Arbeiten mit wechselnder Körperhaltung vorzugsweise in ausgewogenem Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen" möglich. Erst als Soller sich wehrte, stimmte die Nürnberger einem Vergleich zu.
Heiko Stolle, der Fliesenleger, will sich nun ebenfalls wehren und klagen. Nach der Knie-OP arbeitet er zwar wieder. Aber er ahnt, freiwillig zahlt der Konzern wohl nie. Dazu muss er nur Grishams "Regenmacher" lesen: "Wenn der Versicherte keinerlei Widerstand leistet, bleibt es bei der Abweisung."
