Diagnose Plötzlich hat sie eine Stimme

Bauchschmerzen und eine heisere Stimme plagten ein Mädchen jahrelang - ein Mediziner stellte schließlich die richtige Diagnose (Symbolbild)
Bauchschmerzen und eine heisere Stimme plagten ein Mädchen jahrelang - ein Mediziner stellte schließlich die richtige Diagnose (Symbolbild)
© GettyImages
Die Patientin ist drei Jahre alt und seit ihrer Geburt heiser. Der Verdacht: Amelies Stimmbänder sind überlastet. Bis die Mutter von den häufigen Bauchschmerzen erzählt.

Hinter der Tür zum Sprechzimmer wartet in einer normalen Praxis oft nicht nur ein Patient, sondern auch eine Überraschung. Manchmal sind es traurige Geschichten, manchmal ist es ein ungewöhnlicher Befund oder, seltener, ein kerngesunder Mensch, der seinen Arzt mal wiedersehen will.

An diesem Tag war in Zimmer zwei zunächst nichts ungewöhnlich: eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter – Amelie (Name geändert), dreieinhalb, blond, normal gebaut. Und das Kind hatte eindeutig etwas, es war heiser. Nicht seit zwei Tagen, nicht seit zwei Wochen oder Monaten, nein, schon immer. Von Geburt an.

Die Arzthelferin hatte mir noch "dritte Meinung ..." zugeraunt, soll heißen: Andere Kollegen haben sich die Kleine schon angesehen. Die Mutter berichtete, Amelie habe als Säugling eine leise Stimme gehabt, "piepsig", sagte sie, und ja, schon da, heiser. Als das Mädchen ein halbes Jahr alt war, wurden seine Stimmbänder untersucht, keine Knötchen, alles normal. Der Kollege teilte der Mutter mit, was ich an seiner Stelle damals wohl auch gesagt hätte: Keine Panik, der Kehlkopf wächst noch, das regelt sich von selbst. Und das tut es meist ja auch. Bei Amelie tat sich – nichts.

Den gewohnten Blick in die Krankenakte hätte ich mir sparen können, die Mutter kannte sie auswendig. Als Amelie drei wurde und gut sprechen konnte, sehr leise und heiser, nahm sich ein Hals- Nasen-Ohren-Arzt des Kindes an. Seine Diagnose: hyperfunktionelle Dysphonie, also Überlastung der Stimme durch übermäßige Beanspruchung. Er verordnete die Standardprozedur – Sprachtherapie, Stimmtherapie, im Ärztedeutsch "Logopädie". Und nun, einige Monate später, saß Amelie bei uns, sagte wenig, und das mit einer Stimme wie aus einem alten Funkgerät. Womöglich dachte sie auch, irgendwie sei das alles ihre eigene Schuld.

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Ich habe eine Angewohnheit. Ich untersuche jedes neue Kind auf Herz und Nieren. Und auf Ohren, Rachen, Herz, Lunge, den Bauch selbstredend auch. Manchmal stößt man bei diesem Check auf einen Befund, der vorher nicht da war – auf jeden Fall gewinnt man ein paar Minuten Zeit zum Nachdenken.

Diesmal klingelte wirklich etwas in meinem Hinterkopf, den Fachausdruck hatte ich gleich im Ohr: gastroösophagealer Reflux. Der Mutter stellte ich die entsprechenden Fragen: War Amelie als Säugling ein unruhiges Kind? Mmmh, ja. Bauchschmerzen? Oh, ja. Probleme mit Spucken? Ja, öfter. Das passte.

Der Reflux ist bei Erwachsenen nicht ungewöhnlich, Laien nennen es Sodbrennen. Sodbrennen kann auch chronisch sein, dann beschreibt der lateinische Begriff eine Krankheit, bei der zu viel Magensäure produziert wird und diese ihren Weg ungewöhnlich weit nach oben in der Speiseröhre findet. Wäre es möglich, dass Amelie daran litt?

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Zum Weiterlesen

"Die Diagnose" von Anika Geisler (Hg.), Penguin, 256 Seiten, 10 Euro

Um das herauszufinden, musste das Mädchen eine unangenehme Prozedur über sich ergehen lassen und im Krankenhaus einen Schlauch schlucken. Leider die einzige Möglichkeit, um Luftröhre und Kehlkopf anzuschauen. Ohne Befund. Interessant waren allerdings die Ergebnisse von Magenspiegelung und Säuremessung: leichte Reizung der Magenschleimhaut, erhöhte Säurewerte in der Speiseröhre.

Jetzt hatten wir eine für Mediziner nicht ungewöhnliche Lage: Es gibt eine Häufung von Symptomen – Bauchschmerzen, Spucken, Unruhe – und indirekten Befunden – erhöhte Säurewerte, Schleimhaut- Reizung. Aber keinen direkten Hinweis, denn auf den Stimmbändern war von einer Verätzung nichts zu sehen. Trotzdem gaben die Kollegen im Krankenhaus dem Mädchen einen gebräuchlichen Säurehemmer.

Mit Erfolg: Zwei Wochen später stand Amelies Mutter in meiner Praxis, ohne ihre Tochter, dafür mit einer Flasche Wein und dem schönen Satz: "Ich habe gestern zum ersten Mal die Stimme meines Kindes gehört." Die Mutter war gerührt. Ich auch. Aber das sollten Ärzte nicht zu lange sein, deshalb gab ich ihr noch einen Hinweis: "Freuen Sie sich nicht zu doll! Kinder mit lauten Stimmen sind für Eltern nicht immer die reine Freude …"

Dr. Matthias Draf, 43, Kinderarzt in Eitorf. Die 20.000-Einwohner-Gemeinde liegt im Rhein-Sieg-Kreis.

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STERN Nr. 25/17

Diagnose: Plötzlich hat sie eine Stimme

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