Nein, dies ist kein Tarantino-Film, auch wenn der Verlag den Roman "In den Straßen die Wut" so bewirbt. Eine irreführende Referenz, hat die exzessive Gewalt bei Ryan Gattis doch den gegenteiligen Effekt, den sie in "Pulp Fiction" oder "Kill Bill" hat - sie ist keine Groteske, sie dient erst recht nicht der humoristisch überzeichneten Erleichterung oder der Befriedigung eines niederen Gerechtigkeitssinnes. Nein, die Brutalität dieses Buches ist dafür zu real. Sie dreht dem Leser die Luft ab. Sie tut weh.
Vom 29. April bis zum 3. Mai 1992 konnte die Welt dabei zusehen, wie Los Angeles brannte. Die Unruhen entwickelten bürgerkriegsähnliche Ausmaße, nach offiziellen Schätzungen gab es 60 Tote und 2000 Verletzte - Zahlen, die allerdings nicht die Opfer miteinbeziehen, die an diesen sechs Tagen abseits der Unruheherde ermordet wurden: Als Ausgangssperren herrschten und es keine Notfallhilfe gab, wurden zahlreiche alte Rechnungen zwischen verfeindeten Gangs beglichen. "Die Jagdsaison ist eröffnet auf jeden Scheißidioten, der jemals mit irgendwas davongekommen ist", sagt ein Gangmitglied im Buch.
Los Angeles: Sechs Höllentage in der "Stadt der Engel"
Wenn Ryan Gattis diese sechs Höllentage in der "Stadt der Engel" beschreibt, gelingen ihm gleich zwei furiose Romane auf einmal: ein Thriller über Rache und Vergeltung im Mikrokosmos rivalisierender Gangs, und ein apokalyptisches Szenario über eine gewalttätige Gesellschaft, der alle Regeln des Miteinander abhanden gekommen sind, und das sich fast 25 Jahre später ob der Ausschreitungen in Ferguson oder Baltimore aktueller denn je liest.
Damals waren es vier weiße Polizisten, die den Schwarzen Rodney King brutal zusammengeschlagen hatten, von einem Gericht freigesprochen worden. Die Empörung der Bevölkerung eskalierte darüber in tagelangen Gewaltausbrüchen: Passanten wurden angegriffen, Geschäfte wurden geplündert, Autos und Häuser in Brand gesetzt. Aus der manchmal fast schon zu nahen Perspektive von insgesamt 17 Ich-Erzählern wird beschrieben, was passiert, wenn ein Funke alles zum Brennen bringt. Unter den Protagonisten sind Opfer und Täter - aber die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen bei Gattis ohnehin bis zur Unkenntlichkeit.
Der Autor war 1992 erst 14 Jahre alt, "In den Straßen die Wut" basiert auf zweijährigen Recherchen, in denen er mit unzähligen Augenzeugen Gespräche führte - darunter auch Gangmitglieder, die Gattis so manch bedrohliche Begegnung bescherte: "Ich hatte oft Angstzustände, ich hatte Albträume, weinte viel", sagt Gattis. "Irgendwann wollte ich das Buch nur noch schnell zu Ende schreiben, um den Ballast abzuwerfen, den ganzen Druck loszuwerden."
Natürlich hat die Gefahr, in die Gattis sich für seine Nachforschungen begeben hat, eine Authentizität zur Folge, die ein Segen für seine Erzählung ist, die mit kühlem Realismus an die Romane von Richard Price oder auch an die Serie "The Wire" erinnert - nur folgerichtig, dass sich HBO die Rechte an der Serienumsetzung gesichert hat. Mit Alan Ball konnte dafür der Schöpfer von "Six Feet Under" und "True Blood" gewonnen werden, dem eine so bildgewaltige wie ästhetische Umsetzung des Stoffes zugetraut werden muss.
Das nächste große Beben kommt bestimmt
Bei Ball wird Los Angeles besonders lichterloh brennen. Schmeicheln wird das der Stadt aber nicht. "In den Straßen die Wut" macht deutlich, dass die "City of Angels" nicht nur wegen der San-Andreas-Verwerfung eine brodelnde Metropole ist: Das nächste große Beben (der Gewalt) kommt bestimmt. Oder wie es im Buch aus dem Mund eines Dealers heißt: "Die ganze Stadt ist ein riesiger Arsch, der gefickt werden will."
Aber so spezifisch der Roman die sozialen Probleme und multikulturellen Herausforderungen des Molochs an der Westküste auch herausarbeitet - am Ende der aufreibenden 500 Seiten beschleicht den Leser trotzdem das ungute Gefühl: Los Angeles ist als Pulverfass bloß ein Spiegel der USA. Einer dieser Spiegel, in denen bloß alles ein bisschen dicker aussieht. Ach, mehr noch: Los Angeles ist ein Spiegel der westlichen Zivilisation. Besonders beruhigend ist das nicht.