Ob Strandurlaub, Kanufahrten oder Ponyhof: Zehntausende Kinder verbringen einen Teil ihres Urlaubs in Ferienlagern. Nach den Vorfällen auf Ameland, wo sich ältere Jugendliche aufs Schlimmste an Jüngeren vergangen haben, fragen sich nun viele Eltern: Kann man seine Kinder überhaupt noch guten Gewissens in ein Ferienlager schicken? Die Antwort lautet ganz klar ja - wenn vorher ein paar Dinge beachtet werden.
Woran erkenne ich gute Anbieter von Ferienfreizeiten?
"Anbieter von Kinder- und Jugendreisen sollten bei einem größeren Träger eingebunden sein", rät Ulrike Kutsch, Pädagogische Leiterin des Jugenderholungswerks Hamburg e.V.. Große Verbände wie der Deutsche Fachverband für Jugendreisen Reisenetz oder das Bundesforum Kinder- und Jugendreisen geben ihren Mitgliedern einheitliche Standards vor. Das Bundesforum vergibt an Reiseanbieter zum Beispiel das Qualitätssiegel "Sicher Gut". Seit 2007 können die Reise-Anbieter hier durch eine externe Prüfung oder durch einen Fragebogen die Qualität ihrer Kinder- und Jugendbetreuung nachweisen.
Außerdem sollten die Reiseanbieter ein fest formuliertes Leitbild haben. Zielsetzungen wie zum Beispiel jene, Kinder zu neuen Erfahrungen zu ermutigen, ihre Teamfähigkeit zu stärken und dergleichen, sind ein Nachweis für die Seriosität des Angebots. Generell lässt sich sagen, dass langjährig etablierte Anbieter von Kinder- und Jugendreisen eine gute Adresse sind.
Völlig ausschließen lässt sich Missbrauch auch nicht bei qualifizierten Trägern. Denn auch der Städtesportbund, zu dessen Osnabrücker Sektion die Reisegruppe in Ameland gehört, galt bislang als guter Träger.
Wie sollte eine gute Reisevorbereitung gestaltet sein?
Vorbereitungstreffen sind Pflicht. Kinder und Eltern sollten im Vorfeld der Reise unbedingt die Betreuer kennenlernen. Außerdem ist es auch empfehlenswert, wenn sich die Kinder schon vor Reiseantritt einmal getroffen haben. Bei den Treffen können alle wichtigen Fragen im Vorfeld geklärt werden. Hier sollten Eltern auch unbedingt nach der Qualität der Betreuer fragen. "Transparenz ist bei solchen Reisen ganz wichtig", sagt Ulrike Kutsch vom Hamburger Jugenderholungswerk.
Wie erkenne ich gute Betreuer?
Betreuer sollten unbedingt die Jugendleiter Card (Juleica) vorweisen können. Seit 1999 gibt es die Juleica, die Jugendliche ab 16 Jahren dazu qualifiziert, Kinder und Jugendliche auf Reisen zu betreuen. In den 40 Schulungseinheiten lernen die Betreuer nicht nur "Erste Hilfe", sondern sie werden auch in Pädagogik und Streitschlichtung geschult. Sie lernen, was Aufsichtspflicht bedeutet und werden für mögliche Probleme sensibilisiert. Da immer mehr Anbieter von Kinder- und Jugendreisen die Juleica für ihre Betreuer zur Pflicht machen, haben auch immer mehr Betreuer den Kurs absolviert, der im Regelfall vom Land bezahlt wird.
Besonders wichtig ist ein angemessenes Verhältnis zwischen Betreuern und Betreuten. Beim Jugenderholungswerk Hamburg beträgt das Verhältnis eins zu sieben. "Alles andere würde ich hinterfragen", sagt Ulrike Kutsch. Denn eine gute Betreuung braucht ein Vertrauensverhältnis, das sich nur schwer aufbauen lässt, wenn die Betreuer zu viele Kinder gleichzeitig beaufsichtigen müssen.
Ebenso wichtig ist, dass es einen festen Betreuerstamm gibt. Wenigstens einige Betreuer sollten schon länger beim jeweiligen Anbieter arbeiten. Nur so lässt sich gewährleisten, dass die Qualität der Kinderbetreuung gleich bleibt oder verbessert wird. Gute Anbieter führen mit ihren Betreuern nach jeder Fahrt eine Nachbereitung durch. Hier können Vorfälle und Probleme besprochen werden, die Betreuung kann beständig angepasst werden: Die pädagogische Leiterin Ulrike Kutsch berichtet: "Im vergangenen Jahr hatten wir vermehrt Ärger mit den älteren Jugendlichen. Deshalb haben wir die Gruppen verkleinert und die Dauer der Reise verkürzt." Eine Maßnahme, die schon dieses Jahr Früchte trägt, die Zahl der Problemfälle ist gesunken.

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Sind die Ferienfreizeiten für schüchterne Kinder geeignet?
"In jedem Fall, das kann eine ungeheure Chance für solche Kinder sein.", rät Ulrike Kutsch. Denn eine neue Umwelt und neue Erfahrungen können gerade die zurückhaltenden Kinder stärken. "Wichtig ist, dass die Eltern das im Vorfeld den Betreuern ganz klar sagen, damit die Betreuer auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen können", so die Pädagogin Kutsch. Oftmals würden Eltern aus falscher Scham die Probleme ihrer Kinder verheimlichen. Das sei aber falsch. Ein offensiver Umgang mit diesen Themen tue Kindern und Betreuern gut.
Welche Kinder sind am stärksten gefährdet, Opfer zu werden?
Täter suchen sich oft die Kinder aus, von denen sie den geringsten Widerstand erwarten. Wer Schwäche, Konfliktscheue und übertriebene Friedfertigkeit ausstrahlt, wird besonders häufig zum Opfer. Auch in der Gruppe wenig integrierte Kinder sind gefährdet. "Die Täter haben meist eine kalte, zynische Art", sagt Wolfgang Bergmann, Leiter des Instituts für Kinderpsychologie und Lerntherapie in Hannover. "Wenn ein Opfer sich nicht sofort heftig zur Gegenwehr setzt, nutzen sie diese Schwäche gnadenlos aus. Sie haben kein Mitgefühl."
Wie kann ich mein Kind auf Übergriffe vorbereiten?
Leider sind Mobbing und Raufereien in Jugendgruppen fast normal. Nicht immer müssen sofort Erwachsene eingeschaltet werden. Aber es gilt, Kindern klarzumachen, dass sie Grenzüberschreitungen auf gar keinen Fall tolerieren müssen. Wo die Grenzen für sie liegen, müssen die Kinder selbst spüren; das können bereits Kränkungen sein. Sie haben das Recht, sich das unter keinen Umständen gefallen zu lassen.
"Eltern sollten nicht eine Art 'Friedenspädagogik' verfolgen", sagt Bergmann. "Sie müssen ihren Kindern vermitteln, dass im Zweifel heftiger Widerstand nicht nur erlaubt, sondern absolut notwendig ist." Dazu könne auch körperliche Gegenwehr gehören, zum Beispiel Wegschubsen oder starke Tritte gegen das Schienbein des Täters. "Das ist vielleicht kein hochwertiges moralisches Verhalten", sagt der Kinderpsychologe. "Aber in solchen Situationen ist es wichtig, dass den Tätern das Gefühl der Überlegenheit genommen wird." Alternativ können die Opfer damit drohen, die Betreuer oder Lehrer zu alarmieren - und es dann auch tun. Und natürlich sollten die Eltern ihren Kindern auch vermitteln, dass sie jederzeit zu Hause anrufen können.
Warum sprechen viele Kinder nicht über negative Erlebnisse?
Wenn Kinder nicht von selbst offen über erlittene Pein sprechen, ist das ein normales Verhalten: Vor allem Jungs glauben, dass sie sich dann noch schlechter fühlen. Gerade in der Pubertät überwiegt den Eltern gegenüber das Schamgefühl. Außerdem neigen Kinder dazu, sich für sexuelle oder gewalttätige Übergriffe oft selbst die Schuld zu geben. "Doch in ihnen gärt lange Zeit eine ungeheuerliche Wut, sie wissen nicht, wie sie Last loswerden können", sagt Psychologe Wolfgang Bergmann. Häufig fällt es ihnen leichter, mit fremden Menschen zu sprechen, zu denen nicht so ein persönliches Verhältnis wie zu den Eltern besteht. Das können Therapeuten sein oder auch Polizisten. Mädchen fällt es laut Bergmann meistens leichter, sich ihren Eltern anzuvertrauen.
Wie erkenne ich, dass im Ferienlager etwas vorgefallen ist?
Klare, spezifische Anzeichen gibt es leider nicht. Doch misshandelte Kinder leiden unter enormen psychischen Druck. Der kann sich auf unterschiedliche Weise äußern: Sie wirken über längere Zeit bedrückt oder sind auffallend aggressiv und ständig gereizt. Bei in irgendeiner Weise auffälligem Verhalten sollten die Eltern behutsam nachfragen.
Wie arbeite ich mit meinem Kind schlimme Erlebnisse auf?
Zunächst einmal: Eltern sollten ihr Kind nicht bedrängen. "Sie müssen das aufbringen, was ihnen in so einem Fall besonders schwerfällt: Geduld", sagt Bergmann. Sie sollten immer mal wieder Gesprächsangebote machen, aber das Kind zwischendurch auch in Ruhe lassen, wenn es noch nicht so weit ist. Die Opfer haben große Hemmungen, über das Geschehene zu sprechen, doch irgendwann überwiegt bei den meisten das Bedürfnis, sich zu offenbaren. Dann gelte es vor allem, dem Kind das Gefühl zu nehmen, es sei ein Versager und ohnmächtig gewesen. "Die Ehre, deren Verlust das Opfer erlebt hat, muss wieder aufgebaut werden." Dazu könne es helfen, die Kinder an Momente ihrer Stärke zu erinnern und sie zu bestätigen, nichts falsch gemacht zu haben.
Die Kriminalpsychologin Sabine Nowara sagt, Kinder sollten nicht künstlich in eine Opferrolle gedrängt werden, wenn sie mit den Vorfällen scheinbar gut klarkommen: "Es kann reichen, sich die Erlebnisse in Gesprächen anzuhören und dann behutsam Hilfestellungen zu geben." Bei harten Missbrauchsfällen allerdings sollten Eltern professionelle Hilfe von Psychologen in Anspruch nehmen.
Sollten Eltern Anzeige erstatten?
Auf jeden Fall, sagt Wolfgang Bergmann. Das sei vor allem für das Opfer wichtig: "Es muss das Gefühl bekommen: Hier ist jetzt die Hölle los, der Täter bekommt Konsequenzen zu spüren."