Für Stotterer ist Sprechen ein Drahtseilakt. Wider Willen wiederholen sie Konsonanten ("kkkkomisch"), dehnen Wortanfänge ("fffffest") oder blockieren ganze Wortteile ("... kommen"). Dabei bricht ihnen nicht selten der Schweiß aus, die Gesichtszüge verkrampfen sich, die Hände versuchen, über das Sprachhindernis hinwegzutragen.
Stottern ist in unserer Gesellschaft noch immer ein Makel. Viele Betroffene sind isoliert, haben Probleme, einen Job zu finden, leiden unter Komplexen. Zum ersten Mal tritt das Stottern meist um das dritte Lebensjahr auf, dann, wenn das Kind beginnt, längere Sätze mit komplizierten Wörtern zu bilden. Jedes fünfte Kind stottert zeitweilig. Doch bis zum Beginn der Pubertät verliert sich das bei 70 bis 80 Prozent der Betroffenen wieder. Spontanrückbildung nennt man dieses Phänomen, das bei Erwachsenen selten ist. Frauen erleben es eher als Männer, wie auch Frauen generell weniger vom Stottern betroffen sind. Ursache: Bei ihnen ist die Veranlagung zum gestörten Redefluss teilweise mit anderen Genen gekoppelt.
Schwächer ausgeprägte Nervenverbindungen
Mehrere Forschergruppen, darunter auch die Frankfurter, haben die Hirnveränderungen bei Stotterern untersucht. Was sie sahen: In der linken vorderen Hirnhälfte, dort, wo normalerweise die Sprachzentren des Gehirns liegen, sind die Nervenverbindungen zwischen den Sprechmotorikgebieten, die gedachte Laute in Bewegungen von Lippen, Kehlkopf und Gaumen umsetzen, der Sprech- und Sprachplanungsregion, die das Bewegungsmuster zur Wortartikulation findet, und dem auditorischen Kortex, dem Hörzentrum, das Rückmeldung über die gehörte Sprache gibt, schwächer ausgeprägt als im "Normalhirn".
Die graue Substanz in den linksseitigen Hirngebieten ist vermindert, in der rechten Hälfte sind dafür Regionen stärker ausgeprägt. Dazu fanden die Forscher abnorm geformte Hirnwindungen. Und: Ein wichtiges Sprachzentrum, das Planum temporale, ist bei Normalsprechern in linker und rechter Gehirnhälfte asymmetrisch, bei Stotterern nicht. Außerdem sind bei ihnen die Basalganglien, Nervenzentren, die eine Verbindung zum Sprech- und Sprachkortex, aber auch zum Angstzentrum herstellen, stark vergrößert.
Doch Stotterer-Gehirne sehen nicht nur anders aus, sie funktionieren auch anders. Das erkannte das Team um Prof. Neumann durch die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT), ein bildgebendes Verfahren, mit dem die Wissenschaftler in das Gehirn von Stotterern blickten: Während des Sprechens ist bei ihnen das eigentliche Sprechzentrum, die linke vordere Hirnseite, nur wenig beteiligt, die rechte Hälfte dagegen wird ungewöhnlich viel gefordert. Und dort besonders ein Bereich, den die Forscher den rechten orbitofrontalen Kortex nennen: Je schwächer jemand stottert, desto stärker ist diese Region beteiligt.
Falsches Timing
Ein Kompensationsversuch des Gehirns, aber offenbar ein völlig unzureichender. Denn der Mensch stottert ja weiter. Finnische Wissenschaftler fanden außerdem: Das Timing stimmt nicht. Während ein Normalsprechender zunächst das Sprechplanungszentrum aktiviert und dann die für Ansteuerung der Sprechmuskeln zuständige Region, ist es beim Stotterer genau umgekehrt. Schuld könnten die oben beschriebenen schwachen Faserverbindungen sein.
Schon bei stotternden Kindern sind Unterschiede in Struktur und Funktion des Gehirns sichtbar, einige werden aber erst mit dem Erwachsenwerden deutlich. Gegen das Argument, die Hirnveränderung sei Folge, nicht Auslöser des Stotterns, spricht, dass diese Störung zu 70 Prozent erblich weitergegeben wird. Das hat vor allem die Zwillingsforschung ergeben.
Um die Behandlungsmöglichkeiten für Stotterer zu verbessern, forschen Neumann und ihre Mitarbeiter nun daran, was in den Hirnen derjenigen passiert, die ihre Sprechstörung gebessert haben oder es völlig losgeworden sind. Untersucht wurden Betroffene, die eine Fluency-Shaping-Therapie hinter sich gebracht hatten. Diese nutzt die Tatsache, dass Stotterer beim Singen "flüssig" sind, nicht über die eigenen Worte holpern und stolpern. Sie lernen neue Sprechmuster: Mit weichen Stimmeinsätzen, Silbendehnungen und Atemtechnik wird ein äußerer Takt vorgegeben, der langsam zu einem inneren Taktgeber werden soll.
Kompensation durch ein neues Sprachnetzwerk
Doch noch immer bleibt die bewusste Anstrengung nötig. Etwa drei Viertel der Stotterer erzielen damit gute Resultate. Bei diesen Patienten sind nach der Therapie deutlich mehr Regionen in der linken Gehirnhälfte aktiviert, ganz in der Nähe des aufgetretenen Defizits. Erwachsene, die das Stottern spontan vollständig verloren haben, gehen noch gezielter vor: Sie aktivieren eine Region im linken unteren Stirnhirn, das dem Kompensationszentrum im rechten Stirnhirn genau gegenüber liegt. Auf diese Weise bauen sie sich also ein neues Sprachnetzwerk in der Hirnhälfte auf, in die es gehört. Der eigentliche Schaden wird jedoch nicht repariert.
Neumann wertet die Forschungsergebnisse als Beweis dafür, dass Stottertherapien ihre Berechtigung haben. Wo diese Therapien ansetzen, ob bei der Angstbewältigung oder dem Erlernen neuer Sprechmuster, sei völlig gleichgültig, "man muss nur irgendwie den Fuß in dieses komplexe System bekommen. Und zwar je früher, desto besser, gerade bei Kindern, bei denen in frühen Lebensjahren noch die Aussicht auf eine totale Heilung besteht".
Bei den niedergelassenen Logopäden erregt Neumanns Theorie nicht nur Beifall. Claus Welsch, Logopäde aus Saarbrücken, sieht sie als einseitiges Plädoyer für die Fluency-Shaping-Therapie, "eine Vermeidungstherapie, die ein sehr künstliches Sprechen" hervorrufe. Außerdem verleite sie den Stotterer dazu, sich in die Position "ich bin organisch krank" zurückzuziehen und sei damit eher ein Behandlungshindernis. Um das Stottern zu überwinden, müsse jedoch der ganze Mensch mit all seinen Gefühlen und Verhaltensweisen einbezogen werden. Dies geschieht, indem das Ziel verfolgt wird, das Stottern nicht zu vermeiden, sondern selbstbewusst damit umzugehen und die damit verbundenen negativen Emotionen zu verändern.