Top-Ökonom zur Rente "In der Tat ist das jetzt kein Hexenwerk"

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Lars Klingbeil fasst sich an den Kopf, daneben Friedrich Merz
Die Rente sorgt für Kopfzerbrechen bei Lars Klingbeil (SPD, l.) und Friedrich Merz (CDU)
© Agentur Wehnert/M. Gränzdörfer / Picture Alliance
Der Rentenstreit in der Koalition eskaliert. Namhafte Ökonomen fordern, das Rentenpaket komplett zu stoppen – auch Jörg Rocholl, obwohl er Finanzminister Klingbeil berät.

Herr Rocholl, warum rufen Sie gemeinsam mit 21 anderen Ökonomen zum Stopp des Rentenpakets auf?
Der Aufruf kam zustande aus einer Initiative verschiedener Ökonominnen und Ökonomen, die die Sorge umtreibt, dass die derzeit diskutierten Maßnahmen zum Rentenpaket in die falsche Richtung gehen; dass sie also nur kurzfristig orientiert sind, aber nicht längerfristig dazu beitragen, das Rentensystem zu stabilisieren. Diese Rentenpläne werden den Bundeshaushalt auf längere Sicht einschränken. Wenn wir das so zementieren, werden wir weniger Handlungsspielräume für andere Dinge haben, vor allem für öffentliche Investitionen.

Aber Sie beraten doch den Vizekanzler und Finanzminister Lars Klingbeil. Hat er Ihnen nicht richtig zugehört?
Der wissenschaftliche Beirat beim Finanzministerium ist ja völlig unabhängig. Das ergibt sich schon aus der Namensgebung. Er heißt Beirat "beim" Finanzministerium und nicht "des" Finanzministeriums. In unserem Aufruf greifen wir außerdem Elemente aller Koalitionspartner auf, sei es die Mütterrente bei der CSU oder eben das Aussetzen des Nachhaltigkeitsfaktors bei der SPD. Es ist bewusst ein wirklich überparteilicher Aufruf, der sich nicht gegen oder für die eine oder andere Partei richtet.

Jörg Rocholl ist Präsident der Wirtschaftshochschule ESMT in Berlin und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium

Hatten Sie nach dem Aufruf Kontakt zu Klingbeil oder hat er reagiert?
Nein, ich hatte keinen Kontakt, und es gab keine Reaktion, soweit ich das gesehen habe. Aber heute ist ja der Arbeitgebertag. Wahrscheinlich wird man dann sehen, wie die Reaktionen darauf ausfallen.

Was müsste sich im Rentenpaket konkret ändern?
Wir haben im Aufruf bewusst gesagt, man sollte diese Aufgabe an die Rentenkommission delegieren, damit die Expertinnen und Experten wirklich in Ruhe darüber nachdenken können, was sinnvoll ist. 

Das klingt aber sehr nach dem Sprichwort "Wenn du mal nicht weiterweißt, gründe einen Arbeitskreis". Ist der Vorschlag nicht reine Aufschieberitis?
Ja, das ist ein berechtigter Punkt. Aus meiner Sicht könnte es auch ausreichen, die Erkenntnisse, die die vorherige Rentenkommission zusammengetragen hat, einfach zu nutzen. Denn in der Tat ist das jetzt kein unbedingtes Hexenwerk. Es geht im Wesentlichen nur darum, welche Maßnahmen sinnvollerweise kombiniert werden müssen. Deshalb wäre ich stark dafür, eine solche Rentenkommission, wenn man sie denn überhaupt benötigt, wirklich unmittelbar starten zu lassen statt erst in einem Jahr. Denn eines ist bei der Rente klar: Je länger man die Probleme auf die lange Bank schiebt, desto stärker werden sie uns hinterher wieder treffen.

Welche Kombination aus Maßnahmen schlagen Sie vor?
Ich glaube, wir sollten auf jeden Fall über eine längere Lebensarbeitszeit nachdenken. 

Die Rente mit 70?
Nein. Statt ein starres Alter zu fordern, sollte das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung gekoppelt werden. Wir halten das für wichtig, damit nicht immer wieder neue politische Diskussionen losgehen, sondern wir einen Automatismus haben, der das Renteneintrittsalter bestimmt.

Und was noch?
Es müsste darüber nachgedacht werden, wie die Anstiege der Renten abgemildert werden. Zum Beispiel dadurch, dass man die Rentensteigerung stärker an die Inflation als an die Lohnanstiege koppelt. Und es bräuchte eine komplette Reform der Riesterrente, also eine Stärkung der kapitalgedeckten Rente innerhalb der Rentenversicherung. Wir sollten von den großen Vorzügen der Kapitalmärkte stärker profitieren können. Wenn man diese drei Bausteine richtig zusammensetzt, können die zusätzlichen Lasten für die jüngere Generation und den Bundeshaushalt deutlich verringert werden.

In Schweden sparen die Menschen innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung mit Aktien für die Rente. Das sollten wir also auch tun, sagen Sie? 
Richtig. Momentan hängt die Riesterrente in der dritten Säule, also der privaten Altersvorsorge. Die ist aus meiner Sicht wirklich zu einem absoluten Rohrkrepierer geworden. Ein Grund ist, dass gerade die in den Verträgen festgelegte Rentengarantie verhindert, dass man besser an den Kapitalmärkten anlegen und durch höhere Risiken auch höhere Renditen erzielen kann. Das war die Idee hinter dem "Generationenkapital" der Ampel-Regierung. Auch in der zweiten und dritten Säule muss man mehr machen. Die Frühstartrente ist zum Beispiel ein gutes und wichtiges Element, um die private Vorsorge zu stärken.

Das Rentenniveau festzuschreiben und die Mütterrente auszuweiten, lehnen Sie ab. Warum?
Die Mütterrente belastet den Haushalt mit etwa fünf Milliarden Euro pro Jahr. Das halten wir für ein falsches Signal, gerade in einer Zeit, in der es ja nur enge Haushaltsmittel gibt. Plus: Forschung zeigt, dass die Erhöhung der Mütterrente dazu anreizen kann, dass Frauen weniger statt mehr arbeiten. Das würde den Arbeitsmarkt in eine falsche Richtung lenken. Beim Thema Rentenniveau ist wichtig: Der Nachhaltigkeitsfaktor setzt die Anzahl der Rentnerinnen und Rentner in Beziehung zur Anzahl der Berufstätigen. Er regelt ja nur, wie stark Renten steigen. Sie können niemals gekürzt werden. Die Aussetzung des Nachhaltigkeitsfaktors sollte nicht weiter betrieben werden.

Wenn Sie sagen, wir müssen die Zeit jetzt schnell nutzen – gibt es bei der Rentenpolitik ein Glaubwürdigkeitsproblem?
Das ist genau der Punkt. Ich kriege jetzt auch die Rückmeldung: "Ach, Sie haben ja leicht reden, Sie sind ja Beamter." Bin ich nicht, ich bin auch in der gesetzlichen Rentenversicherung. Weil die Rente nun mal so viele Menschen betrifft, ist das Vertrauen in einen solchen Mechanismus ganz zentral. Das heißt, gerade hier sollte man jetzt nicht mit Flickschusterei beginnen, sondern sehr langfristig orientiert vorgehen und schnell Lösungen finden, die das Vertrauen der Menschen in die Rente insgesamt stärken.

Welche Einigung ist denn vorstellbar?
Das ist schwer zu sagen. Die Fronten sind durchaus verhärtet. Deswegen haben wir unseren Aufruf gestartet. Ich halte es für wichtig, dass man sich jetzt noch mal genau anschaut, was denn wirklich sinnvoll ist. Dafür sollte die Regierung ihr jetziges Rentenpaket komplett zurückziehen, unmittelbar eine Rentenkommission einsetzen und dann wirklich mit hoher Geschwindigkeit, aber trotzdem mit tiefem Nachdenken zu einer langfristig tragfähigen Lösung kommen.

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