Editorial Aufschwung statt Reformschwung

Mit großformatigen Anzeigen blies die Regierung ihre Botschaft ins Land: "Deutschland bewegt sich doch". Doch es macht große Mühe, das Steuerreförmchen und die Neuerungen auf dem Arbeitsmarkt anzuschieben...

Liebe stern-Leser!

Mit großformatigen Anzeigen blies die Regierung ihre Botschaft ins Land: "Deutschland bewegt sich doch", stand dort zur Jahreswende. Die Kraftanstrengung, das Steuerreförmchen und die Neuerungen auf dem Arbeitsmarkt anzuschieben, war dabei so groß, dass nun alle ein wenig ermattet zurücksinken. Dabei sollte doch richtig Dampf gemacht werden: ein ernsthafter Umbau des Steuersystems, niedrige Sätze, einfach zu durchschauen, Bürgerversicherung oder Kopfprämienmodell, Subventionsabbau, Pflegeversicherung umkrempeln, Lohnnebenkosten senken, damit Arbeitsplätze sprießen.

Aber den Akteuren in Berlin ist die Lust vergangen, auch wenn die Regierung am Montag offiziell das Gegenteil beteuern ließ: Es gebe keine "Abstriche am Reformkurs". Dennoch: Der schnelle Reform-Brüter Schröder hat sich per Notabschaltung erst mal stillgelegt. Das Wort Reform scheint, weil missbraucht und abgenutzt, zu einer öffentlichen Bedrohung verkommen zu sein. Der Kanzler bremste die Pflegereform, schraubt vielleicht noch ein wenig an der Erbschaftssteuer, die Rentner müssen mit Abstrichen rechnen, alles andere bleibt vermutlich in der Schublade "Planung" bis zum großen Showdown 2006. Denn Spieler, der er ist, wittert er am Horizont seine Chance, sich und seine Genossen aus dem Umfrageloch zu ziehen. Eine Chance, für die er mal wieder nichts tun muss, die ihm der Himmel schickt - den Aufschwung.

Wie ist das schön: Mit etwas Glück löst ein solides Wachstum bis zur Bundestagswahl ein Problem nach dem anderen, ohne dass Schröder die Wähler weiter quälen muss. Die Steuereinnahmen sprudeln, man kann hier ein bisschen mehr in die Bildung stecken, dort ein bisschen mehr in die Forschung. Die Maastricht-Kriterien sind kein Thema mehr, die Arbeitslosigkeit baut sich ab. Neue Arbeitsplätze entstehen. In zwei Jahren wird der Kanzler dann zurückblicken und der Nation die Karten legen: "Mein Aufschwung, meine Reformen, meine Innovationen, meine Jobs!" Und die Opposition, die ohnehin ihr Pulver bis 2006 trocken halten will, muss passen. Hofft Schröder.

Die Erkenntnis lautet: Der Aufschwung nimmt allen den Schwung. An wirklich tief gehenden Veränderungen scheinen nur wenige der Verantwortlichen ernsthaft interessiert zu sein. Kuschelig einrichten im Status quo und auf die beschlossenen Reformen verweisen. Immerhin, die Grünen warnen Schröder davor, "die Politik der ruhigen Hand wieder aufleben zu lassen". Und Stoiber nimmt die Vorlage im stern-Interview dankbar auf: Er sei, anders als Schröder, kein Reformer nur für einen Sommer (Seite 38). Denn die harte Wirklichkeit könnte die Blütenträume des Kanzlers rasch platzen lassen: Der Aufschwung bleibt matt, er schafft keine neuen Jobs, und die Sozialsysteme trudeln in neue Katastrophen.

Daher müssen die großen Reformprojekte jetzt klar skizziert werden. Welches Ziel soll wann erreicht werden? Die allgemeine Verunsicherung entsteht vor allem durch das ewige Vorwärts, Rückwärts, Seitwärts. Wenn Schröder den Umbau des Sozial- und Steuersystems zur Konstante seiner Politik machen würde, wüssten die Bürger, woran sie sind. So aber verlieren sie noch den letzten Rest an Vertrauen.

Herzlichst Ihr
Andreas Petzold

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