Editorial Das Gemeinwesen umgraben

Liebe stern-Leser! Wenn DDR-Chef Erich Honecker einst morgens in Wandlitz aufbrach zu seinem Arbeitsplatz

Liebe stern-Leser!

Wenn DDR-Chef Erich Honecker einst morgens in Wandlitz aufbrach zu seinem Arbeitsplatz in Berlin Mitte, dann zog er häufig die Gardinen vor die Scheiben seines dunkelblauen, überlangen Volvos. So ersparte er sich den Blick auf das sichtbare Elend seines Arbeiter-und-Bauern-Staates, die bröckelnden Fassaden am Rande der Protokollstrecke. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. So weit ist es mit der Berliner Republik noch nicht gekommen, aber eine ähnliche Realitätsscheu scheint auch im rot-grünen Regierungslager zu grassieren. Gerhard Schröder hat gleichsam die Vorhänge des Kanzleramtes zugezogen. Nur noch genervt nimmt er zur Kenntnis, was die zahlreichen Kritiker an seine Adresse richten: dass unsere Sozialsysteme vor die Wand fahren, die Wirtschaft dauerhaft lahmt, die depressive Stimmung sich festfrisst. Vielleicht will er all das wirklich nicht wissen. Denn aus der Einsicht ergäbe sich der Zwang zum Handeln. Das 20-Punkte-Programm der Wirtschaftsweisen für mehr Wachstum und Beschäftigung – ein Torpedo mittschiffs in die Regierungs-Dschunke – vermochte bei Schröder keine erkennbaren Aktivitäten auszulösen. Vier der fünf Weisen hat er selbst eingesetzt, drei besitzen sogar ein SPD-Parteibuch. Wie glaubwürdig müssen die Mahner denn noch sein, bevor der Kanzler seine ökonomische Irrfahrt beendet? Was ist eigentlich aus dem instinktsicheren Regierungskünstler geworden, der Krisen in persönliche Erfolge verwandeln konnte? Ein furchtsamer Machterhalter, eingemauert von den Betonköpfen in seiner Partei und in den Gewerkschaften. Dabei eröffnet sich angesichts von Staatsverschuldung, Insolvenzrekord und kaputten Sozialsystemen eine fast historische Chance für Schröder: Jetzt ist der Moment gekommen, in dem die Bürger erkannt haben, wie tief dieses Land im Sumpf steckt.

Jetzt müsste der Kanzler zumindest in Grundzügen formulieren, wie die Steuer- und Sozialsysteme, aufgeweicht durch die prekäre demographische Entwicklung, in Zukunft zu organisieren sind. Auch die Kommission unter Leitung von Wirtschaftswissenschaftler Bert Rürup, die irgendwann Reformen ausbrüten soll, braucht schließlich Vorgaben. Die „Neujustierung des Sozialstaates“, die Schröder vergangenen Montag in Berlin ankündigte, ist nichts als ein wager Hinweis. Also, warum nicht den Koalitionsvertrag schreddern und dann den Spaten ganz tief ansetzen, um unser Gemeinwesen wirklich umzugraben? Darum drehen sich auch einige Beiträge in diesem Heft. Professor Paul Kirchhof, ehemals Richter am Bundesverfassungsgericht, skizziert ein simples Einkommensteuersystem (Seite 290 der Printausgabe). stern-Vize und Kolumnist Hans-Ulrich Jörges denkt in seinem Zwischenruf aus Berlin (Seite 70 der Printausgabe) über die Haltbarkeit dieser Regierung und mögliche Alternativen nach. Und ab Seite 48 der Printausgabe ärgert sich stern-Autor Walter Wüllenweber nicht nur über das ungerechte Rentensystem – mit seiner zornigen Abrechnung bezieht er im Generationenkonflikt Stellung gegen die Älteren. Damit wird er sicher einigen Unmut auf sich ziehen. Wie denken Sie darüber? Schreiben Sie uns!

Herzlichst Ihr

Andreas Petzold