Fried – Blick aus Berlin Wie der Ströbele-Trick Friedrich Merz das Amt retten dürfte

Mit einem Stimmen-Splitting a lá Ströbele könnte die Koalition gerettet werden
Mit einem Stimmen-Splitting a lá Ströbele könnte die Koalition gerettet werden
© Stern-Montage: Patrick Slesiona / Imago Images
Prognose im Rentenstreit: Dank eines Kniffs mit historischem Vorbild wird die Mehrheit für das Paket stehen. Aber danach wird es nicht leichter für den Kanzler.

Voraussagen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen, lautet eine bekannte Redensart. Dieser Text entsteht am Wochenbeginn, als noch nicht klar ist, ob die schwarz-rote Koalition eine Mehrheit für das Rentenpaket zustande bringt. Aber ein Kolumnist muss sich auch mal den Nervenkitzel einer Prognose leisten, deren Falsifizierung ganz schön peinlich für ihn werden könnte, die bei genauerer Betrachtung so riskant aber gar nicht ist. Wie sie lautet? Moment.

Der Druck auf die Widerständler der Jungen Gruppe in der Union war groß. Der Kanzler hat nicht die Vertrauensfrage gestellt, aber eine Frage des Vertrauens ist es trotzdem geworden. Die Widerständler sind ihrer Ankündigung verpflichtet, dem Gesetzentwurf in der jetzigen Form nicht zuzustimmen, wollen aber die Regierung nicht gefährden. So weit bekannt.

Friedrich Merz war 2001 auch schon dabei

Für die Lösung dieses parlamentarischen Zwiespalts gibt es ein historisches Vorbild, das auf den Grünen-Abgeordneten Hans-Christian Ströbele zurückgeht. Als 2001 Gerhard Schröder die Abstimmung über einen Anti-Terror-Einsatz in Afghanistan mit der Vertrauensfrage verband, standen acht grüne Pazifisten vor dem Problem, dass sie bei geschlossener Ablehnung die rot-grüne Regierung stürzen würden. Nach Tagen der Debatte und schlaflosen Nächten, wie sie auch die jungen Unions-Abgeordneten dieser Tage heimsuchen dürften, verabredete man ein Stimmen-Splitting: Vier Grüne stimmten gegen Schröder, unter ihnen Ströbele, vier andere stimmten für ihn. Der Protest war dokumentiert, aber die Koalition gerettet. Friedrich Merz hat das Prozedere selbst erlebt: Er war damals Unions-Fraktionschef.

So oder jedenfalls so ähnlich dürfte es diese Woche auch beim Rentenpaket laufen. Einige stimmen dafür, einige dagegen, die nötige Mehrheit immer vor Augen. Ströbele, der RAF-Terroristen verteidigte, die "Taz" mitgründete und für die Grünen das erste Bundestagsdirektmandat holte, hätte sich niemals träumen lassen, einem Kanzler Friedrich Merz quasi das Amt zu retten. 2022 verstorben, muss er es wenigstens nicht mehr miterleben.

Merz regiert mit viel Aufwand

Unabhängig vom tatsächlichen Ausgang der Renten-Chose lohnt es sich, die beiden Fälle noch eingehender zu vergleichen. 2001 ging es nach den Terroranschlägen in den USA in einer international angespannten Lage um eine außenpolitische Grundsatzentscheidung und um deutsche Verlässlichkeit in der Nato. Doch empfanden wohl viele bei SPD und Grünen die Rettung der selbst ernannten Reformkoalition als noch wichtiger. Nach 16 Jahren Helmut Kohl hätte ein Ende der Regierung nach nur drei Jahren das Scheitern jener linken Polit-Generation manifestiert, für die Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Otto Schily standen, aber eben auch Ströbele.

Heute erleben wir ziemlich genau das Gegenteil. Die schwarz-rote Koalition ist kein Projekt, sondern ein Notbündnis. Mit dem Begriff der demokratischen Mitte wird ihr eine künstliche Gemeinsamkeit angedichtet. So sehr sie sich um die Wahrnehmung als Reformkoalition bemüht, so sehr wird sie doch – auch durch eigene Letzte-Patronen-Rhetorik – als Regierung in Angst vor der AfD wahrgenommen. Deshalb mussten Kanzler Merz und seine Getreuen in die Abstimmung über die Haltelinie beim Rentenniveau eine viel höhere Bedeutung pumpen: die Stabilität der Regierung in krisenhaften Zeiten, das Wohl des großen Ganzen und so weiter.

Die Vorhersage lautet also: Die Mehrheit steht. Die eigentliche Frage aber ist, wie lange man für das Regieren immer wieder so einen Aufwand betreiben kann. 

PRODUKTE & TIPPS

Kaufkosmos