Sonntagmorgen in Jerusalem. Die Kolonne des Bundeskanzlers fährt vom "King David Hotel" zur Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Überall sperrt die Polizei die Kreuzungen längere Zeit für den Berufsverkehr. Der Sonntag ist in Israel ein normaler Arbeitstag. Friedrich Merz und seine Delegation rasen vorbei an langen Autoschlangen. Wenn man aus einem der Busse in die frustrierten Gesichter der Wartenden blickt, beschleicht einen ein Störgefühl, dass ausgerechnet die Delegation des Kanzlers aus dem Land der Täter die Nachkommen der Opfer blockiert, um der millionenfachen Ermordung ihrer Eltern, Groß- und Urgroßeltern mit der Pünktlichkeit gedenken zu können, die man von den Deutschen eben gewohnt ist.
Merz, da kann man ihm nichts vorwerfen, hat der Toten mit der gebotenen Würde gedacht. Er nahm sich zwei Stunden für seinen Besuch, ließ sich durch die Ausstellung führen, ging über Original-Pflastersteine aus dem Warschauer Ghetto, hörte zu, fragte nach und sah aufrichtig betroffen aus. Dann schrieb er ins Gästebuch, Deutschland müsse für die Existenz und Sicherheit Israels einstehen. "Das gehört zum unveränderlichen Wesenskern unserer Beziehungen, und zwar für immer."
Friedrich Merz spricht jetzt vom "Wesenskern"
Das ist ein Satz von Bedeutung. Denn mit dem "unveränderlichen Wesenskern" nimmt Merz Abschied von der Staatsräson, die zwei Jahrzehnte lang fest zum deutsch-israelischen Verhältnis gehörte. Der einstige Botschafter Rudolf Dressler hatte sie aufgebracht, Angela Merkel führte sie 2007 vor den Vereinten Nationen ein und verschaffte ihr 2008 vor dem israelischen Parlament besondere Beachtung. Olaf Scholz übernahm die Staatsräson und Merz auch, jedenfalls steht sie in Zeile 2736 des Koalitionsvertrags, der offenbar bei der Haltelinie des Rentenniveaus mehr Bindewirkung entfaltet als im Verhältnis zu Israel. Denn jetzt will Merz das Wort partout nicht mehr benutzen. Staatsräson isch over, sozusagen.
Es gibt gute Gründe, die Passgenauigkeit des Wortes in Zweifel zu ziehen. In der ursprünglichen Bedeutung steht Staatsräson dafür, "die Machtinteressen des eigenen Staates zu verabsolutieren und alles andere nur zum Mittel zu diesem Zweck zu degradieren", wie es der Historiker Ulrich Speck beschrieben hat. Merkel hatte diese Bedeutung umgekehrt und die Sicherheit eines anderen Staates zur Voraussetzung für die Legitimation des eigenen gemacht.
Merz’ Bedenken indes gehen offenbar in die Richtung des früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck. Der warnte 2012 davor, dass es Deutschland schwerfallen könnte, zum Beispiel im Falle eines iranischen Angriffs auf Israel das Versprechen der Staatsräson einzuhalten.
Der Kanzler verschafft sich politischen Spielraum
Merz geht einen Schritt weiter. Vom Nicht-Können zum Nicht-Wollen. Es ist bemerkenswert, dass gerade der Kanzler die Staatsräson abschafft, der sich bei Israel für die "Drecksarbeit" im Iran bedankte, jüngst aber Waffenlieferungen nach Israel aussetzte und keine bewaffneten Soldaten in eine Friedenstruppe nach Gaza schicken möchte. Ein Zufall? Wohl eher der Versuch, sich angesichts der Debatten zu Hause mehr politischen Spielraum gegenüber der israelischen Regierung zu verschaffen.
Welches Versprechen aber enthält dann der "unveränderliche Wesenskern"? In der englischen Übersetzung des Gästebucheintrags heißt es, die Sicherheit Israels sei "verwoben im Stoff der deutsch-israelischen Beziehungen". Das klingt sehr weich, und man kann nur hoffen, dass es Merz so soft dann doch nicht meint.