Liebe Frau Dr. Peirano,
oft stehe ich (weibl., 45 Jahre) in sicherer Entfernung vor meinem eigentlich schönen Zuhause und möchte doch am liebsten nicht Heim. Könnte dann nur heulen. Ich fahre immer häufiger extra Umwege, lasse mir unendlich viel Zeit, um die Fahrzeit von meinem Arbeitsplatz, oder sonstwo her, ja so lang wie möglich halten. Ich habe keine Affäre, will auch bestimmt keine, höre dann einfach „meine Musik“ und versuche zu entspannen ...
Im Grunde erwartet mich zu Hause nichts Böses, nur: Sie warten auf mich ...
Sie: ... mein wirklich sehr lieber, toller Mann, meine pubertierende 16-jährige Tochter und mein 11-jähriger, leicht unruhiger, Sohn.
Egal woher ich komme, aus meinem Job als Erzieherin im Internat im Schichtdienst, von Wochenend-Fortbildungen, vom Einkaufen, sobald ich auch nur das Haus betrete, „ballert“ alles auf mich ein. Auch nachts, falls ich mal zum Feiern aus war, wird *liebevoll* auf mich gewartet ... zumindest von meinem Mann.
Alle warten auf mich und alle wollen *auf meinen Schoß*, auch mein Mann. Sofort soll ich ansprechbar und offen für all ihre Anliegen und Bitten und Sorgen und Probleme sein. Nach mir fragt nie einer, oder danach, wie mein Tag war.
Erbitte ich mir mal einen kurzen Augenblick zum Heimkommen, wird die Stimmung sofort drückend und vorwurfsvoll. Immer wieder ertappe ich mich, wie ich mich auf die Toilette begebe, um Zeit für mich zu schinden.
Manchmal gebe ich Bauchschmerzen vor, warum ich so lange Zeit auf dem WC verbringe, manchmal nehme ich (fast täglich inzwischen) ein Bad, nur um Zeit für mich zu haben; wenn ich jedoch nicht abschließe, wird nicht mal dort meine *Privatsphäre* geachtet. Zeitweise gehe ich ins Schlafzimmer, obwohl ich nicht müde bin, nur um Ruhe zu finden.
Nur: Jeder weiß, dass ich nicht müde bin und somit ist die Stimmung alles andere als entspannend ...
Dazu hilft es vielleicht zu wissen: Die Bauweise unseres Hauses ist *loftmässig*, also alles *ist offen*, ohne Wände und Türen, bis auf die Sanitäreinrichtungen und Schlafzimmer, gibt es wenig bis gar keine Rückzugsmöglichkeiten, wo man mal die Tür zumachen könnte. Mein Mann und ich haben dieses Haus/unser geliebtes Haus und das Zuhause unserer Kinder vor einigen Jahren selbst so entworfen und mit erbaut und jetzt „verteufele“ ich es manchmal. Dieses Problem zieht sich jetzt schon 3-4 Jahre schleppend dahin ...
Mein Mann und ich haben schon viel, sehr viel geredet ... Ich habe ihm gesagt, dass ich mir natürlich deutliche Entlastungen wünsche, wenn er denn mal da ist. Mal achtet er darauf, aber dann verfällt er wieder in alte Verhaltensmuster ... Manchmal finde ich ihn auch absolut kontraproduktiv, ja, fast dumm. Ich sage z.B.: "Geh doch mal mit Junior Fussball spielen", aber er hört nur *Fussball* - und lädt sich Kumpels zum Fussballgucken zu uns (!!!) ein. Junior aber sitzt allein in seinem Zimmer und daddelt *FiFA* an der Playstation - und ich komme von der Arbeit und könnte durchdrehen.
Ich fühle mich langsam total provoziert. Letztens wollte er pünktlich schlafen gehen und ich meinte, nee, er müsse warten, bis die Große sich meldet (16 Jahre); vielleicht muss sie abgeholt werden ... müsste er dann mal machen, hat ihm gar nicht gefallen ... Ach#
Jetzt zu meinem Problem: Ich habe eine Freundin, die hat sich jetzt getrennt.
Bei ihr war die Situation ähnlich und sie wäre jetzt sooo froh und viel entspannter. Ich glaub das sogar. Aber ich will meine Familie nicht aufgeben. Und ich will auch nicht mehr heulend vor meinem Zuhause stehen und mich nicht mehr reintrauen.
Was kann ich nur tun, Frau Dr. Peirano?
Erwartungsvoll.
Helen B.
Liebe Helen B.,
Ihr Leid und Ihren Ärger kann ich mir sehr deutlich vorstellen! Ich kann gut nachfühlen, wie sich alles in Ihnen danach sehnt, zu Hause Ruhe zu haben. Das heißt: Nach einem anstrengenden Tag als Erzieherin nach Hause kommen zu dürfen und sich selbstverständlich zurückzuziehen, ohne dass Ihre Familie gleich an Ihnen zieht und zerrt.
Ich habe von vielen Frauen ähnliche Klagen gehört. Bei Ihnen bin ich jedoch optimistisch, dass Sie etwas verändern können, weil Ihre Kinder keine Kleinkinder mehr sind, sondern bereits 11 und 16 Jahre alt.
Kann es sein, dass Sie sich früher, als die Kinder kleiner waren, bereitwillig zurückgestellt haben und sowohl die Kinder als auch Ihren Mann emotional versorgt haben? Mir kommt es so vor, als wenn Ihre Kinder bislang nicht gelernt haben, dass Sie ein eigenständiger Mensch sind, der auch von sich erzählen möchte, der Bedürfnisse hat und nicht ständig für alle ansprechbar ist. Dann ist es höchste Zeit, dass Ihre Kinder - und auch Ihr Mann - das lernen! Eine Freundin von mir meditiert zum Beispiel jeden Mittag eine Dreiviertelstunde lang, und ihre Kinder haben sich schon als Grundschulkinder daran gewöhnt, dass Mama jetzt nicht gestört werden darf (und danach wieder ansprechbar ist).
Ich habe den Eindruck, dass Sie Ihre Bedürfnisse zwar sehr stark wahrnehmen, aber es schwer für Sie ist, diese auch konsequent durchzusetzen. Sie schieben Gründe vor (ich bin müde), wenn Sie sich zurückziehen. Mein Vorschlag wäre: Trauen Sie sich, mehr zu Ihren Bedürfnissen zu stehen. Am Besten, Sie sagen klar, dass Sie jeden Tag nach der Arbeit eine Stunde für sich brauchen, in der Sie nicht gestört werden möchten. Ohne einen Grund dafür zu nennen. Und dann handeln Sie danach und entspannen sich im Schlafzimmer.
Und sagen Sie nicht nur, wann Sie nicht gestört werden möchten, sondern verabreden Sie mit jedem Einzelnen und mit der ganzen Familie feste Zeiten, in denen Sie gerne präsent sind. Dann weiß jeder, wann er Ihre volle Aufmerksamkeit hat. Wenn es ein verbindliches Ja gibt, ist ein Nein kein hartes Nein mehr, sondern nur ein "Nicht jetzt, sondern später". Das schafft Klarheit und ist leichter anzunehmen!
Zudem ist es sicher hilfreich, wenn Sie mit Ihrem Mann eine Paartherapie machen. Er könnte lernen, Ihnen besser zuzuhören und sich auch um Ihre Bedürfnisse zu kümmern, Sie nach Ihren Erlebnissen fragen. Und Sie könnten ihm vermitteln, wann Sie Kontakt und Nähe mit ihm haben wollen - und wann nicht. Denn anscheinend fühlt er sich dafür verantwortlich, Nähe herzustellen, weil Sie Distanz herstellen, und das scheint ihm Angst zu machen. Wenn Sie sich auch um Nähe bemühen, kann er besser loslassen.
Haben Sie schon mal probiert, sich die so benötigten Ruhezeiten außerhalb Ihres Zuhauses zu nehmen? Sie könnten doch ein paar Tage alleine wegfahren (Strandspaziergänge, Wellness) oder regelmäßig einen Abend in der Sauna verbringen, einen Yogakurs besuchen oder alleine spazieren oder joggen gehen. Auch Achtsamkeitsübungen oder Entspannungsübungen von einer CD helfen, den Kopf wieder frei zu kriegen nach einem Arbeitstag als Erzieherin.
Der Schlüssel liegt darin, dass Sie selbst sich erlauben, ein Leben außerhalb der Familie zu führen. Und dass Sie daran arbeiten, in der Familie nicht auf die Versorger- und Kümmerrolle reduziert zu werden, sondern Ihre Bedürfnisse anmelden und für die Einhaltung sorgen, so wie es die anderen anscheinend auch machen (Ihre Tochter geht ja auch alleine weg, Ihr Sohn guckt Fußball).
Wenn Sie hundertprozentig klar sind, wo die Grenzen liegen und diese auch benennen ("Stör mich jetzt nicht, ich bin in einer Stunde wieder für dich da"), wird es sich garantiert bessern.
Ich wünsche Ihnen viel Klarheit und Konsequenz
Herzliche Grüße
Julia Peirano
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Herzliche Grüße
Julia Peirano