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Besser lernen Schafft die Hausaufgaben ab!

Abends noch mit Mama und Papa Formeln pauken? Nicht auf den besten Schulen Deutschlands. Es wird Zeit, dass auch die anderen folgen.
Von Ingrid Eißele

Eigentlich hätten sie sich abends gern entspannt, nach einem langen Arbeitstag. Aber da war dieses schlechte Gewissen. "Wir hatten immer das Gefühl, wir müssten noch mal loslegen", sagt Ralph Bühn. Also legten sie los. Er übernahm Physik und Chemie, seine Frau Mathe, Latein und Englisch. Oft war es nach neun, wenn ihre Tochter Carolin die Schulsachen wieder zusammenpackte. Drei Stunden Hausaufgaben pro Tag - das war die Regel, oft paukte die Gymnasiastin auch am Wochenende. Sie kam auf eine Fünfzigstundenwoche. Mit zwölf Jahren.

Carolin sei immer angespannter und freudloser geworden, erzählt ihre Mutter, "das Kindliche war weg. Ich bin ja auch ein Leistungsmensch, aber dieses Pensum war unmenschlich." Die Tochter gab das Klavierspiel auf, fehlte beim Fußballtraining, hatte keine Zeit mehr für Freunde. Und weil sie immer häufiger krank wurde, musste sie den versäumten Stoff zu Hause nachholen. Ein Teufelskreis. Carolin, inzwischen 13, sagt: "Irgendwann konnte ich nicht mehr."

Wechsel auf die Gesamtschule

Geht das nicht auch anders? Gibt es nicht auch Schulen ohne diesen Leistungsdruck? Carolins Eltern machten sich auf die Suche. Und sie fanden, ganz in ihrer Nähe: die Gesamtschule im Wuppertaler Stadtteil Barmen, 1361 Schüler, 121 Lehrer. Eine gute Schule, eine der besten in Deutschland. Am Mittwoch wurde sie in Berlin mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Weil sie möglich mache, dass "alle an ihr Ziel kommen", so Michael Schratz, der Sprecher der Jury.

Die Gesamtschule hat in den 20 Jahren ihres Bestehens viel verändert. Schulstunden etwa dauern 65 statt 45 Minuten, weil sich so besser arbeiten lässt. Das Klassenzimmer wurde neu definiert: Die Kinder lernen auch in der Bibliothek, am Rande des Schulteichs oder auf dem knallgelben Fußboden der Galerie unter einem riesigen Glasdach. Schule als Gewächshaus für Palmen, Farne - und Ideen.

Keine Hausaufgaben mehr

Eine davon klingt für die meisten Schüler und Eltern in Deutschland geradezu revolutionär: Es gibt an dieser Schule so gut wie keine Hausaufgaben mehr, bei denen die Eltern im großen Stil eingespannt werden. Davon haben Generationen geträumt. Nie mehr daheim am Küchentisch Grammatikregeln, Vokabeln und chemische Formeln bimsen. Das war lange kaum vorstellbar. Denn Hausaufgaben gehören zu den Konstanten des deutschen Schulsystems. Auch wenn sich ansonsten fast im Jahresrhythmus die Bedingungen ändern - Hausaufgaben sind oft geblieben, was sie waren: Fronarbeit.

In den 80er Jahren gab es erste Forderungen, sie abzuschaffen, um den Schülern unnötigen Stress zu ersparen. Ohne Erfolg: Eltern und Lehrer glaubten weiter an die Paukerei daheim, die Mütter galten gar als die "Hilfslehrer der Nation".

Kein Einfluss auf die Noten

Hausaufgaben, so der noch heute weitverbreitete Glaube, dienten dazu, den Schulstoff zu vertiefen und zu festigen. Doch das bezweifeln Bildungsforscher. Sie hätten "keinerlei nachweisbaren Einfluss auf die Schulnoten", lautete schon vor Jahren die ernüchternde Erkenntnis von Erziehungswissenschaftlern der TU Dresden, die verschiedene Studien ausgewertet hatten.

Inzwischen tobt um die Hausaufgaben einer der großen Glaubenskriege der deutschen Schulpolitik. Jutta Allmendinger etwa, die Präsidentin des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung, fordert schon länger, die Hausaufgaben ganz abzuschaffen, weil sie die soziale Ungerechtigkeit zementierten. Ein Teil der Eltern hätte nicht die Möglichkeiten, ihren Kindern zu helfen.

Zu Hause: ein Machtkampf

"Unfug", hielt der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, dagegen. Man könne Mutter und Vater doch nicht ihr Recht auf Unterstützung nehmen, niemand fördere Kinder so gut wie engagierte Eltern.

Doch genau daran gibt es Zweifel. Zwei Drittel aller Eltern lernen regelmäßig mit ihren Kindern. Aber nur die wenigsten sind eine echte Hilfe, gerade mal knapp 14 Prozent. Die Mehrheit wirke "suboptimal", fanden Lernforscher heraus. Besonders Eltern, die regelmäßig neben ihrem Nachwuchs sitzen, richten sogar mehr Schaden an, weil sie durch zu viel Druck Kinder unselbstständiger machen oder sogar entmutigen.

"Da geht es manchmal auch um Macht", sagt die Erziehungswissenschaftlerin Martina Nieswandt von der Universität Kassel. "Die Mutter sitzt auf ihrem Thron, das Kind wie verhext auf seinem Stuhl, da gibt es kein Entrinnen, auch nicht bei 34 Grad, wenn andere längst im Schwimmbad sind." Hausaufgaben seien ein Relikt aus alter Zeit.

Eltern geben Kurse

Allerdings reicht es nicht, sie einfach wegzulassen. Es kommt auf das Konzept an. Denn der Verzicht auf die Hausaufgaben weist allen neue Rollen zu, Lehrern, Schülern - und Eltern.

Bettina Kubanek-Meis ist die Leiterin der Gesamtschule Barmen, sie spricht leise, freundlich, punktgenau. Eltern, sagt sie, überzeuge man "über Beziehung und Vertrauen, dass für ihre Kinder Förderliches passiert". Fährt sie durch ihre Stadt, fällt ihr immer mehr Werbung für Nachhilfeinstitute auf. "Diese outgesourcte Bildung, schrecklich!", sagt sie. Das sei doch ein Zeichen dafür, dass sich immer mehr Eltern überfordert fühlten. Es werde Schülern zu wenig zugetraut, selbst Verantwortung für ihr Lernen zu übernehmen. Genau das sei aber der Schlüssel zum selbstständigen Arbeiten in den höheren Klassen - und auch zu Hause.

An ihrer Schule braucht es keine Pauk-Eltern mehr, sondern Väter und Mütter, die Sportgruppen leiten, Nähkurse geben oder Aufsicht führen in der Bibliothek. Etwa ein Drittel der 55 Arbeitsgemeinschaften wird von Eltern betreut.

Stichwort Verantwortung

So gesehen ist Barmen nicht nur eine Schule für Kinder, sondern auch eine für Eltern. Beispielsweise Carolins Eltern. "Loslassen am Gymnasium war schwer, weil für uns klar war, dass sie dieses Pensum allein nicht mehr schaffen kann", sagt ihre Mutter. An der neuen Schule funktioniere es - "weil die Lehrer hier Verantwortung übernehmen".

Der Umgang mit Verantwortung ist eines der Kriterien für die Vergabe des Deutschen Schulpreises. "Die Lehrer hier sind wie Resonanzkörper", sagt Michael Schratz, Dekan für Erziehungswissenschaften an der Universität Innsbruck und Jurysprecher. "Sie versuchen zu erspüren, was ihre Schüler brauchen, sie führen sie gezielt an ihre Grenzen - und darüber hinaus." Denn eines ist klar: Der Verzicht auf Hausaufgaben bedeutet nicht Verzicht auf Leistung - auch eines der Kriterien für gute Schule.

Die Arbeitsstunde am Vormittag

Statt Hausaufgaben gibt es in Barmen für Klasse 5 bis 8 "Arbeitsstunden", nicht drangehängt an den Unterricht, wie an manchen Ganztagsschulen, sondern zur besten Zeit des Tages: etwa um 10.30 Uhr, 65 Minuten konzentrierte Arbeit, zwei- bis dreimal pro Woche. Die Klassenlehrer sind immer dabei.

Auch an diesem Vormittag in Klasse 7b. Klassenlehrerin Ute Gürtler-Scholl fragt ihre Schüler, was ansteht. "In Physik müssen wir Beispiele für magnetischen Strom nennen", sagt Marvin. "In Bio geht es um Grauhörnchen, die erschossen werden sollen, und wir sollen schreiben, wie wir das finden", sagt Dennis.

In den folgenden 20 Minuten wird in der 7b allenfalls geflüstert. Auf dem Pult der Lehrerin liegen Kopfhörer bereit. Wer seine Ruhe haben will, setzt sie auf.

Selbstständig und konzentriert

Nick, 13, im türkisfarbenen Kapuzenpulli, sammelt am Laptop biografische Daten zu einem US-Schauspieler, der bei einem Autounfall ums Leben kam. "Ich spreche heute über Paul Walker", steht auf seinem Bildschirm. Sein Vater hätte ihm bei der Recherche sicher gut helfen können, "aber ich werde es auch so schaffen", sagt er. In seinem Rücken hat er ein Fach mit seinem Namen, er muss seine Hefte nicht mehr nach Hause schleppen. Allenfalls ein paar Vokabeln üben die Schüler noch daheim. Dann steht Nick auf und geht zu seiner Lehrerin, fragt sie leise nach der englischen Schreibweise einer Jahreszahl.

Baran, ebenfalls 13, hat sich nebenan in das Leben von Rapper Spongebozz vertieft. "Ein Battle-Rapper", flüstert er. Manchmal reimt er selbst ein bisschen. Über den Musiker muss er ein Kurzreferat auf Englisch halten. Baran ist Sohn türkischer Eltern. Sein Vater ist Arbeiter, die Mutter Verkäuferin, sie können ihm in Schuldingen nicht viel helfen. Eher schon Firat, sein Onkel, der vor Kurzem sein Abi an der Gesamtschule Barmen gemacht hat, als Erster in der Familie. Baran will es ihm nachmachen, er will Innenarchitekt werden.

Sozialer Brennpunkt

"Man muss abschätzen können, was schaffbar ist", sagt Ute Gürtler-Scholl. Jedes Kind bekommt seine maßgeschneiderten Aufgaben. Ist eine Aufgabe erledigt, macht Baran ein Kreuz in sein "Logbuch". Hat er sie vergessen, schreibt die Lehrerin eine Erinnerung oder einen Kommentar an die Eltern, die das "Logbuch" jede Woche unterschreiben. So erfahren sie genau, welche Fortschritte ihr Sohn gemacht hat. Braucht Baran Hilfe, kann er sich nicht nur an seine beiden Klassenlehrer, sondern auch an Mitschüler wenden. Gleichaltrige, sagen die Schüler in Barmen, könnten viele komplizierte Dinge sogar noch besser erklären. Schließlich sind sie oft die wahren Experten fürs Lernen.

Die Gesamtschule Barmen ist eine Insel in einem sozialen Brennpunkt. Wuppertal gehört zu den am höchsten verschuldeten Städten Deutschlands. Fast jedes dritte Kind lebt in einer Familie von Hartz-IV-Empfängern. "Für einige Schüler ist die Schule ein schönerer Ort als ihr Zuhause. Sie freuen sich, wenn sie nach den Ferien wieder zu uns kommen dürfen", sagt Schulleiterin Kubanek-Meis. Etwas mehr als die Hälfte ihrer Schüler wächst mit nur einem Elternteil auf, ein Drittel hat ausländische Wurzeln, in den fünften Klassen fast die Hälfte aller Kinder. Eigentlich genau die Schule, um die Bildungsbürger einen Bogen schlagen. Eigentlich.

Selbstbewusst und kritisch

Die Gesamtschule hat die meisten Anmeldungen aller Schulen in der Stadt, es gibt eine Warteliste. Lars Büttgenbach ist froh, dass seine Töchter Lea und Nada einen Platz bekommen haben. Beide hatten eine Empfehlung fürs Gymnasium, aber in der Gesamtschule seien sie gut aufgehoben, sagt er, auch wegen der vielen Angebote speziell für leistungsstarke Kinder. "Ich habe das Gefühl, dass meine Töchter hier viel lernen", sagt Büttgenbach, der selbst Lehrer ist. Und nicht nur Schulstoff. Selbstbewusst seien sie geworden. "Sie kritisieren auch ihre Lehrer, ohne Angst."

Inzwischen besucht mehr als ein Drittel der Schüler in Deutschland eine Ganztagsschule. Je mehr es werden, desto stärker werde der Trend zur Abschaffung der Hausaufgaben, beobachtet der Ganztagsschulverband. In Nordrhein-Westfalen schreibt inzwischen sogar das Schulministerium vor, dass Ganztagsschulen "möglichst" ohne Hausaufgaben auskommen sollen. Auch die Hamburger Klosterschule, ein Ganztagsgymnasium und ebenfalls unter den Preisträgern des Deutschen Schulpreises, hat die Hausaufgaben weitgehend abgeschafft.

Eine gute Entscheidung

Was wäre das für ein Land, das keine Hausaufgaben mehr kennt?

Eins mit mehr Zeit, glaubt Bernd Steioff vom Ganztagsschulverband. Kinder und Eltern hätten mehr Zeit und die Lehrer auch. In der Grundschule sei die elterliche Handschrift manchmal kaum zu übersehen. "Wir wollen aber gar nicht kontrollieren, ob Eltern die Hausaufgaben richtig gemacht haben", sagt er. Die Zeit sei besser für konzentrierte Arbeit mit den Schülern investiert.

Nach fünf Monaten an der neuen Schule sagt Carolin: "Das war eine richtig gute Entscheidung." Ihre Mutter sagt: "Ein Unterschied wie Tag und Nacht. Wir sind alle viel entspannter, das Kind lebt auf."

Carolin hat länger Schule und doch mehr Freizeit. Sie geht wieder zum Fußball, trifft Freunde, spielt Badminton mit dem Vater. Vielleicht werde sie wieder Klavierunterricht nehmen, sagt sie. Aber nicht jetzt, "jetzt genieße ich meine Freizeit". Jeden Tag, ab 15.05 Uhr.

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