Von Jochen Siemens
Ende der 80er Jahre in München. Er kam aus New York und es war einer seiner seltenen Deutschland-Besuche. Er war 82 und er stieg langsam die Treppen herauf, in der linken Hand einen Stock. Alle waren ein bisschen verlegen, weil er die große Eminenz und das Studio so klein war. »I like it wirklich«, sagte er. Und dann, »junger Mann, tun Sie mir einen Gefallen, können Sie eine Flasche roten Cinzano besorgen?«. Dann schaute er sich um, »junge Frau, Sie machen doch Haare und Make up. Wir haben noch etwas Zeit, können Sie mir die Haare schneiden? Wir bekommen doch gleich Gäste«.
Horst P. Horst sagte das mit feiner Ironie, er kannte die deutschen Olympiasportler nicht, die er fotografieren sollte. Von dem Cinzano trank er nur ein Glas. Als einer der Assistenten ihn fragte, welche Polaroids er wünsche, wurde Horst lächelnd streng: »Junger Mann, ich brauche keine Polaroids. Als ich anfing zu fotografieren, gab es so was nicht. Fotos sind für mich Überraschungen und keine Berechnungen.« Ein paar Jahre später, im Sommer 1991, saß er wie jeden Tag bei seinem Mittags-Italiener an der New Yorker Lexington Avenue und sprach über Weißenfels an der Saale: »Ja, da bin ich geboren«, und er wollte wissen, wie es dort nach der Wiedervereinigung aussieht.
Eigentlich hiess er Horst Paul Albert Bohrmann, und über ihn zu erzählen, heißt, weit in die Fotografiegeschichte zurückzublicken. Die neue Kunst wurde ihm nicht gerade in die Wiege gelegt. Er wurde 1906 als Sohn eines Eisenwarenhändlers in Weißenfels geboren. Horst ahnte bald, dass sein Platz später nicht der Ort an der Saale sein würde, er suchte jede Gelegenheit, dem geborgenen, doch strengen Elternhaus zu entfliehen. Anfang der 20er Jahre fand er Freunde in der Dessauer Bauhaus-Gruppe, darunter Eva Weidemann, zehn Jahre älter als er, die ihn in die Welt der Kunst, des Tanzes, der Dichtung einführte. Am Bauhaus arbeiteten Freigeister, die gegen die herrschende Moral rebellierten mit ihrer Verehrung des nackten Körpers als wichtiges Element der Kunst und mit Nacktbaden.
Es folgten Lehrjahre in Frankfurt als Chinesisch-Student, in Hamburg als Im- und Exportkaufmannslehrling und als Student an der Kunstgewerbeschule – ein Wort, das Horst noch im hohen Alter mit sichtlichem Spaß aussprach. Dann Paris: Horst, mittlerweile gelernter Möbeltischler, wurde Assistent des Architekten Le Corbusier. Aber das war alles noch nicht das Richtige. Schließlich begegnete er dem für ihn entscheidenden Lehrmeister, dem baltischen Adelsspross Baron George Hoyningen-Huene, Fotograf und Zeichner für die französiche »Vogue«. Viele Fotografen, wie auch Huene, kamen damals aus der bildenden Kunst, und in der Fotografie versuchten sie, die Bildhauerei und die Malerei nachzuempfinden oder in etwas Neues zu übersetzen. Darüber sprachen die beiden schon bei der ersten Begegnung. Biografen vermuten, dass sich eine künstlerische Anziehung mit einer homoerotischen verband. Horst wurde Huenes Fotoassistent, bald auch Modell und Reisegefährte.
Die Fotografie, diese junge Kunst, nahm Horst gefangen. Wochenlang saß er im Pariser Louvre und probte im Kopf, wie er das Licht der Gemälde in die Fotografie hinüberbringen könnte. 1931 fragte die stilbildende amerikanische »Vogue« ihn, ob er sich vorstellen könnte, selbst Fotos zu machen. Horst, gewohnt smart und von sich überzeugt, willigte ein, zweimal in der Woche im »Vogue«-Studio, das es in Paris gab, zu arbeiten. Fotografie war damals noch ein relativ wenig verbreitetes Medium, die Redaktionen waren über jeden froh, der sich hinter die Kamera wagte.
Geprägt vom Bauhaus und den Architektur- und Kunsterfahrungen gelang es Horst, mit wenig Aufwand stark räumlich wirkende Bildinszenierungen mit Menschen zu machen, anmutig und emotional zugleich, beinahe so, als seien sie mit Leben erfüllte Interiors seiner Weltsicht. Dazu die Finesse, mit der er Licht und Schatten um seine Objekte herum gestaltete. Bruce Weber, heute einer der wichtigsten Fotografen und von Horst stark beeinflusst, sagte einmal: »Die Eleganz seiner Bilder lässt einen zu einem fernen Ort und zu einer Sicht entschweben, die Menschen schöner macht. Du fragst dich, wer diese Personen sind.«
Bei einem Hollywoodbesuch in den 30er Jahren machte Horst Bilder von der jungen Diva Katharine Hepburn. »Filmstars werden die Plätze der verschwindenden Adeligen in unserern Blättern füllen«, meinte er bald und entwickelte sich zum Meister der Celebrity-Fotografie. Er arbeitete noch hauptsächlich in Paris, neben den Porträts und der Mode wurde die Nacktheit eines seiner großen künstlerischen Themen. Und wie ein Abenteurer bereiste er mit seiner Rolleiflex Nordafrika und den Vorderen Orient. Ein solches weltmännisches, freigeistiges Genie passte nicht in das Europa, das von Hitlers Diktatur und deutschen Soldaten heimgesucht wurde. Wenige Monate vor seiner fluchtartigen Abreise aus Paris machte Horst dort am 11. August 1939 für französische »Vogue« das Foto, das später sein Werk symbolisieren sollte: »The Mainbocher Corset« – die Rückenansicht einer jungen Frau in einem kunstvollen, halb geöffneten Korsett. Horst P. Bohrmann ließ sich als Emigrant auf Long Island bei New York nieder, wurde amerikanischer Staatsbürger, und als er 1943 zur US-Armee einberufen wurde, nutzte er die Gelegenheit, seinen Nachnamen Bohrmann endgültig in Horst zu ändern. Als Army-Fotograf erhielt er den Auftrag, den neuen US-Präsidenten Harry S. Truman zu porträtieren; bis hin zu Gerald Ford war er offizieller Präsidenten-Fotograf.
Auch nach dem Krieg gehörte Horst zu den gefragtesten Glamour-Fotografen der Welt, fotografierte Karajan und die Callas. Bis in die späten 80er Jahre stand er hinter der Kamera, porträtierte Stephanie von Monaco, Karl Lagerfeld, Duran Duran und deutsche Athleten wie Anja Fichtel und Carlo Thränhard. Am 18. November 1999 starb der Weltmann aus Weißenfels im Alter vom 93 Jahren in seiner Sommerresidenz Palm Beach Garden, Florida. Dort werden zur Zeit die unzähligen braunen Umschläge in den luftdicht verschlossene Kisten gesichtet: Ungefähr 22 000 Fotos, davon nur die Hälfte veröffentlicht. Manches Foto trägt sicher noch ein Geheimnis – wie jenes berühmte Bild der jungen Frau im Korsett. Die Angst vor dem Ausbruch des 2. Weltkriegs war im Sommer '39 auch in Paris sehr greifbar, als Horst sie fotografierte: »Das Mädchen weinte die ganze Zeit. Deshalb habe ich es von hinten aufgenommen.«