"Jesus and the Cherries" Ein Dorf zwischen Kommen und Gehen

In ihrem Bildband "Jesus and the Cherries" porträtiert Jessica Backhaus Menschen und Leben in der polnischen Provinz. Die Fotografin visualisiert darin das Zusammentreffen von Vergangenem und Kommendem.

Vier Einmachgläser, bis oben hin gefüllt mit knackig dunkelroten Kirschen, stehen in einer hölzern ausgekleideten Küche. Neben ihnen sind einige Tongefäße aufgereiht, an der Wand klebt eine Jesuskarte im blumigen Poesiealbumsstil. Eine Kulisse, wie von findiger Werberhand inszeniert: Das Bild vermittelt auf Anhieb Gemütlichkeit, ermöglicht Einblicke in vergangene häuslichere Zeiten, weit entfernt von Konservenfabriken und Supermarktregalen.

Dieses Interieur ist aber keine inszenierte Werbekulisse, sondern Dokumentation realen Lebensraums. Festgehalten hat es die deutsch-amerikanische Fotografin Jessica Backhaus. In ihrem farbintensiven Bildband "Jesus and the Cherries" porträtiert sie Menschen und Leben im Norden Polens. Zentraler Punkt hierfür ist das Dorf Netno in Westpommern.

Längere Aufenthalte in der polnischen Provinz

Dort besitzt die Familie der Fotografin seit mehr als zehn Jahren ein altes Gutshaus. Jessica Backhaus selbst, die als erfolgreiche Fotografin zwischen den Metropolen Paris und New York pendelt, hat seither viel Zeit in der traditionellen Welt in und um Netno verbracht. Diese längeren Aufenthalte in der polnischen Provinz erlauben Backhaus und ihrer Kamera intime Einblicke in die Alltagskulisse der Alteingesessenen: künstliche Blumen, Gehäkeltes und Gesticktes, Heiligenmotive und Stillleben in kompromisslos kombinierten Bonbonfarben.

Aber als "aus dem Westen Angereiste" ist die Fotografin auch hochsensibel für die wachsenden Einflüsse der modernen industriellen Welt in den polnischen Dörfern: So bröselt auf einer ihrer Fotografien der kitschig blassblaue Putz von der Wand und gibt den Blick frei auf eine nackte graue Asphaltwand; auf einem anderen Bild ist vom ursprünglichen Wandanstrich auch nicht mehr viel zu sehen, denn das spärlich eingerichtete Zimmer ist über und über mit Starpostern aus der neonfarbenen MTV-Welt dekoriert. Einzig ein mit einem Rosenkranz behängtes Engelbild, das fast unsichtbar zwischen den Postern der Postars Kelly Rowland und Nellys klebt, lässt ahnen, wie derselbe Raum vor einigen Monaten noch aussah.

Das Vergangene wirkt noch vergilbter

Das in Backhaus' Bildern mal subtil, mal offensichtlich visualisierte Zusammentreffen von Vergangenem und Kommendem erinnert an die Texte des Fototheoretikers Roland Barthes. In seiner Schrift "Die helle Kammer" beschreibt Barthes das Medium Fotografie als "die Kunst des Vergänglichen": In dem Moment, wo etwas mit Hilfe einer Kamera festgehalten wird, ist es schon Vergangenheit. Bei den Bildern in "Jesus and the Cherries" wirkt das Vergangene noch vergilbter, da die Zukunft in Form von Poppostern und Markenshirts bereits lautstark an die Pforte pocht. Als westlicher Betrachter glaubt man vorauszusehen, wie sich das Neue kontinuierlich in diesen Lebensräumen ausdehnen und das Traditionelle ihm nach und nach weichen wird.

Die optische Spannung zwischen den verschiedenen Epochen wird durch die Farbgebung der Bilder noch intensiviert. Die Töne auf den Bildern sind ganz im Gegensatz zu den lange als modisch geltenden blassen Tönen bis zum Anschlag hin gesättigt. Manche von Backhaus' Bildern erinnern vom Motiv her an altertümliche Schwarz-Weiß-Fotografien, die grelle Farbigkeit jedoch, lässt eher an die Pop-Art denken.

Das Buch:

Jessica Backhaus: Jesus and the Cherries
Texte von Monika Rydiger und Stephan Schmidt-Wulffen
Hardcover, 24,6 x 32,8 cm
Englisch/ Deutsch
58 Euro
Kehrer Verlag Heidelberg
www.kehrerverlag.com

Jessica Backhaus Fotografien erlauben dem Betrachter mehr als einen oberflächlichen Einblick in den ländlichen polnischen Alltag. Die von ihr zielsicher fotografierten Details laden zum aufmerksamen und mehrmaligen Betrachten der Bildszenarien ein. Neben einigen wenigen Porträts zeigt der im Kehrer Verlag erschienene Band auffallend viele menschenleere Interieurs. Die abgebildeten Räume wirken aber alles andere als verlassen, sondern erzählen sehr viel vom Leben in ihnen: gestern und morgen.

Sabina Riester