Ein Bild und seine Geschichte Auf der Suche nach der Urform

Von Philipp Gülland
Eigentlich will Karl Blossfeldt nur Unterrichtsmaterial produzieren, doch dem gelernten Bildhauer gelingt mit seinen nüchternen Pflanzenstudien eines der meistdiskutierten Fotobücher der wilden Zwanziger. Zwischen Wissenschaft und Kunst zeigen seine Bilder pure Pflanzlichkeit.

Arbeit, nichts als Arbeit: die einzelnen Haarfarnstängel ausrichten, ihre Anordnung an der Mattscheibe der selbstgebauten Plattenkamera prüfen und dann noch mal ausrichten, bis jeder Winkel aufs Grad genau und jede Position auf den Milimeter stimmt. Karl Blossfeldt nimmt sich Zeit, viel Zeit, für seine Pflanzenstudien.

Sorgfältig arbeitet er das jeweils Typische von Blüten, Blättern, Stängeln, Dolden und Knospen heraus, lässt Formen und Strukturen in weichem Licht vor weißem Hintergrund hervortreten. Der Haarfarn, im Wald an jeder Ecken anzutreffen, wird so zur abstrakten Schönheit: Elegant winden sich die schlanken Stiele durch das Bild, feine Härchen glänzen im Licht, zart aufgewickelte Knospen erinnern an Notenschlüssel oder Schwanenköpfe.

Von Kunst und Sachlichkeit

Es ist nicht Kunst, auf die Blossfeldt es mit seinen Fotografien abgesehen hat. Der gelernte Bildhauer unterrichtet an der Kunstgewerbe-Schule in Berlin "Modellieren nach lebenden Pflanzen". In erster Linie sind seine sinnlich-sachlichen Pflanzenstudien Anschauungsmaterial. Zwischen 1890 und 1930 entstehen - nach immer gleichen Muster - 6000 Aufnahmen. Ein gewaltiges Herbarium: kühl, technisch, präzise und doch wunderbar surreal - ein Meilenstein der konzeptionellen Fotografie.

Dass Blossfeldts Bilder den Weg in die Galerien der Welt finden, scheint rückblickend nicht verwunderlich. Doch dem 1865 im Harz geborenen Fotografen geht es um Technik und Ästhetik, Blossfeldt ist ein überzeugter Verfechter der neuen Sachlichkeit, er sucht "Urformen" als Vorbild jeder Gestaltung. Für Blossfeldt und seine Mitstreiter sind Form und Funktion eng miteinander verbunden. Neue Sachlichkeit und die Bauhauslehre schlagen im Kunstbetrieb der zwanziger Jahre hohe Wogen, die Philosophie des Bildhauers liegt im Trend.

Vom Klassenzimmer in die Galerie und weiter

Schon lange hat Blossfeldt an seiner Pflanzensammlung gearbeitet und die Bilder im Unterricht genutzt, noch nie haben die Schautafeln die Räume der Kunstgewerbeschule an der Hardenbergstraße verlassen. Im April 1926 zeigt eine Ausstellung die Werke erstmals einer breiten Öffentlichkeit, Zweckbilder werden über Nacht Kunst. Tageszeitungen kommentieren die Pflanzenstudien freundlich bis euphorisch, nennen sie einen wichtigen Beitrag zur Moderne.

Blossfeldt ist nicht mehr unbekannt, aber den großen Durchbruch stellt diese erste Ausstellung nicht dar - der kommt erst zwei Jahre später. 1928 erscheint im Archtekturbuchverlag Ernst Wasmuth der Bildband "Urformen der Kunst", ein Riesenerfolg. Blossfeldt, von Zeitgenossen als "freundliches Exemplar einer ausgestorbenen Gattung" beschrieben, ist berühmt, die erste Auflage seines Buches binnen acht Monaten ausverkauft. Rezensenten und Publikum nehmen den Band geradezu euphorisch auf, sie sehen den Fotografen als Pionier einen neuen Sehens.

Aus Versehen in die Kunsgeschichte eingegangen

Blossfeldts Werk stellt etwas radikal Neues dar: nüchtern, akribisch, konzeptionell und systematisch sammelt und vergleicht er Formen und Strukturen. Die Fotografie ist dabei zunächst Mittel zum Zweck: das "...beste Hilfsmittel zur Herausarbeitung von Pflanzendetails", wie er selbst erklärt. Fotografisch ist er Amateur, weder die Regeln des Handwerks noch die des Kunstbetriebs belasten ihn bei der Arbeit an seinen Studien. Unbekümmert rational erforscht er in seinen Bildern Urformen und geht damit später als einer der großen Fotografen des zwanzigsten Jahrhunderts in den Olymp der Kunstgeschichte ein – aus Versehen.

"Urformen der Kunst"
Die Kölner Galeristen Ann und Jürgen Wilde haben das aus 120 losen Bildtafeln im Schuber bestehende Mappenwerk, das 1928 parallel zur Erstausgabe erschien, neu reproduziert. Die kleine Druckwerkstatt in Belgien hat dabei eine Qualität erzielt, die das Original noch übertreffen soll. Das Buch ist in der Stiftung "Karl Blossfeldt Archiv" sowie im Buchhandel erhältlich und kostet 220 Euro.
www.karl-blossfeldt-archiv.de