Wie im Regen steht sie da, an diesem trüben Frühlingstag 1945: Den Blick gesenkt zwischen Angst und Scham, die Schultern hängend, die Hände ängstlich verkrampft. Bis vor wenigen Monaten hat sie für Hitlers Häscher gespitzelt, jetzt steht sie erkannt und entlarvt inmitten einer aufgebrachten Menschenmenge - von der Mitläuferin zur Verliererin. Die Wut der Opfer eines beispiellos barbarischen Systems bricht unerwartet über sie herein: Sie, die Denunziantin, wird jetzt bloßgestellt, beschimpft und geprügelt.
Schuld und Sühne
Henri Cartier Bresson, 36 Jahre alt, war wegen seiner Aktivität in der Résistance selbst drei Jahre Gefangener der Deutschen, nach mehreren Versuchen gelang ihm schließlich die Flucht. Jetzt fotografiert er im Auftrag der Alliierten, ein Kollege filmt. "Es war ein Film von Gefangenen über Gefangene. Während mein Kameramann filmte, spielte sich die Szene vor meinen Augen ab. Ich hatte die Fotokamera in der Hand und drückte ab. Die Szene ist nicht gespielt. Seltsamerweise sieht man dieses Bild nicht im Film", wird er später berichten. In der etwa halbstündigen Dokumentation "Le Retour" fehlt die Szene tatsächlich, sie fiel vermutlich dem Schnitt oder einem Brennweitenwechsel zum Opfer.
Bresson jedoch erfasst die Sekunde des Entlarvens, welche die ganze Geschichte erzählt: Leid, Wut und Scham, Schuld und Sühne. Neben der Enttarnten steht die Frau, die sie erkannt hat: Das Gesicht wutverzerrt, in Angriffspose, die Kollaborateurin am Arm fassend. Der Beamte am Tisch vorne rechts im Bild mustert die ehemalige Informantin ernst, vor ihm liegen die Papiere der Beschuldigten, seine Hände ruhen auf einem Notizblock, in einer liegt ein Füllfederhalter. Er scheint über die Angelegenheit Protokoll zu führen, offenbar wird gerade über die Bestrafung der Frau verhandelt. Die drei Protagonisten des Bildes zeigen deutlich das Trauma der Vergangenheit, die Wut der Gegenwart und die Bewältigungsarbeit der Zukunft.
Klarheit und Zuspitzung
Diese Klarheit verankert das Bild bis heute als Symbol für Befreiung und Aufarbeitung im visuellen Erbe des 20. Jahrhunderts, sie macht es auch für Cartier Bresson, den Meister des Einzelbildes, typisch: auf einem Kleinbildnegativ fixiert er "le moment décisif", den entscheidenden Augenblick, in Perfektion. "Ich mag es, wenn meine Bilder klar sind, oder besser: zugespitzt... Das ist mehr eine Sache des Stils als der Technik." fasst er sein Credo zusammen, das irgendwo zwischen Verstand, Bescheidenheit und Poesie liegt.
"Photographieren, das ist eine Art zu schreien, sich zu befreien... Es ist eine Art zu leben." "Ein gutes Foto ist ein Foto, auf das man länger als eine Sekunde schaut", und "Die Fotografie ist ein Handwerk. Viele wollen daraus eine Kunst machen, aber wir sind einfach Handwerker, die ihre Arbeit gut machen müssen": Zitate, deren Wirkung auf die Dokumentarfotografie bis heute anhält. Sein stark vom Surrealismus geprägter Stil und sein behutsam sezierender Blick machen Henri Cartier Bresson zu einer zeitlosen Ikone des Bildjournalismus.
1947 beteiligt er sich an der Gründung der berühmten Agentur "Magnum", benannt nach der Magnum-Flasche Champagner, mit der angestoßen wurde, in den folgenden Jahren arbeitete er unter anderem in Europa, Mexiko, Indien, Pakistan, Kuba, China, den USA und 1954 als erster ausländischer Fotograf der Sowjetunion. Ab 1972 zieht er sich aus der Fotografie zurück und widmet sich seiner großen Liebe: der Malerei. Fast 96 Jahre alt, stirbt Henri Cartier Bresson 2004 in der Nähe von Marseille.