Ich bin seit 25 Jahren Porträt- und Reportagefotografin. Durch meine Arbeit erschließe ich mir die Welt. Ich beobachte sie und versuche, einen Teil davon möglichst komprimiert in ein Rechteck zu bannen. Ich arbeite viel mit Menschen zusammen – sie kommen aus jeder Schicht, sind gesund oder krank, sitzen an der Macht oder sind entmächtigt. Ich wäre wohl nicht die Person, die ich heute bin, wenn ich nicht all diese Begegnungen und Erlebnisse durch meine Arbeit gehabt hätte. Und nicht all die Geschichten zu den Bildern gehört hätte. Sie haben mein Weltbild geformt, mich die Welt verstehen lassen.
Jetzt stellt die künstliche Intelligenz (KI) alles auf den Kopf. Sie bedroht meine Existenz und die meiner Kolleginnen und Kollegen, weil Bilder massenhaft und billig wie nie erzeugt werden können. Und zwar von allen, nicht nur von uns Fotografinnen und Fotografen. Auch ein anderer Punkt bereitet mir Sorge: dass es fortan schwerer ist, zwischen Realität und "Fake" zu unterscheiden, wenn fast jeder alles fälschen kann. Ein von KI-geschaffener Papst in wattierter Jacke – wie kürzlich überall zu sehen – mag ja noch witzig sein, aber es wird auch andere Motive geben, die weitaus gefährlicher sind, die Misstrauen schüren, auch gegenüber den Medien und somit letztlich unsere Demokratie gefährden.
Das ist die eine, die unschöne Seite von KI.
Gleichzeitig eröffnet die Technik faszinierende Möglichkeiten, und ich bin überzeugt: Wer als Fotografin oder Fotograf nicht untergehen will, muss sich mit KI beschäftigen. So mache ich es selbst auch: Ich habe Veranstaltungen zum Thema KI in der Kunst besucht, zum ersten Mal in meinem Leben mit Programmierern gesprochen und, schon als der Hype losging, ein Seminar beim inzwischen sehr bekannten KI-Künstler Boris Eldagsen belegt. Ob und wie ich KI-Bildgeneratoren beruflich und kommerziell nutzen werde, habe ich noch nicht entschieden. Sie sind für mich im Moment ein faszinierendes Experimentierfeld im illustrativen Bereich.
Im Dopamin-Rausch
So treibe ich mich stundenlang auf Midjourney herum, einem Bildgenerator, der über die Gamer-Plattform Discord läuft. Dort gebe ich einen Text ein und nach 60 Sekunden erscheint mein Wunschbild. Oder das, was die KI für die Lösung meines Wunsches hält. Es ist ein bisschen wie am Einarmigen Banditen im Casino: ein Versuch noch, denke ich, beim nächsten Mal kommt bestimmt das raus, was ich mir vorstelle. Und – schwupps! – sind zwei, drei Stunden vorbei.
Was mich Bild um Bild produzieren lässt? Erstens bekomme ich nie genau das ausgespuckt, was ich haben will. Also mache ich weiter. Gleichzeitig werde ich mit jedem entstandenen Bild belohnt. Das spornt an. Wie eine Süchtige schütte ich Dopamin aus bei der Bildproduktion, anders ist es nicht zu erklären, dass ich nicht aufhören kann.
Midjourney funktioniert wie ein Chat und ist, bei entsprechender Einstellung, öffentlich. Bilder, die ich erzeuge, sind für alle sichtbar. Und ich sehe, was die anderen produzieren. Ich kann ihre Fortschritte sehen, ich kann von ihnen lernen. Ich kann es toll oder blöd finden, was sie machen. Während ich auf mein eigenes Bild warte, ist immer etwas los.
Ich beginne zu verstehen, warum man sich in einer Parallelrealität aufhalten will. Bildgenerator schlägt Kamera. Es ist, als würde man eine Barbiedarstellerin neben eine Bäuerin stellen. Ich weiß genau, wo mein Herz schlägt, aber ich kann den Blick trotzdem nicht von der glatten, bunten Oberfläche abwenden.
Zudem ist es sehr verlockend, die Welt am Schreibtisch neu zu erschaffen. Man hat es warm und bequem, die Welt ist wie ein großes Computerspiel, ohne Grenzen. Womit ich nicht sagen will, es wäre einfach. Wenn man wirklich gute Ergebnisse erzielen will, muss man sich tief hineingraben. Es ist Arbeit. Aber man erspart sich die sperrige Realität.
Künstliche Intelligenz in der Fotografie – Schreibtisch statt Urwald
Als Fotografin gehört es dazu, vor anderen auf die Knie zu gehen und im Dreck zu robben, wenn es das bessere Bild ergibt. Es kann passieren, dass einem bei der Arbeit die Finger abfrieren und dass abends die Knochen wehtun, wenn man den ganzen Tag das Equipment geschleppt hat. Das kann man mühselig finden, aber es hat auch etwas sehr Befriedigendes. Man setzt sich mit anderen Menschen und ihren Vorstellungen auseinander. Man muss über den eigenen Schatten springen. Bei der Arbeit komme ich anderen Leuten viel näher als ich das sonst täte. Ich bin durch tropischen Urwald gestapft, obwohl mir dabei mulmig war und habe auf Eisschollen in der Arktis gelegen, obwohl ich Kälte hasse. Ich habe dabei meine Kraft und meine Grenzen gespürt. Und ich habe alle meine Sinne dafür gebraucht. Es kann ein Kampf sein, seine Eindrücke und Gedanken adäquat in eine Form zu bringen. Aber es führt zum Verständnis der Welt, zum Begreifen, wenn man sich ein Thema, eine Situation auf diese Weise aneignet.
Jetzt erlebe ich am Computer eine ähnliche Euphorie, wenn mir ein gutes Bild gelingt. Es ist aber aber billiger zu haben und irgendwie fühlt sich das auch so an. Nach Stunden am Computer bin ich ausgehöhlt, als hätte ich eine Staffel Bridgerton am Stück geschaut.
Was zusätzlich anstrengt: Die Allmachtsfantasie, man könne wie Gott alles nach Wunsch erschaffen. Aber die Programmierer haben Schranken eingebaut. Sie haben die Themen eingegrenzt, manche Begriffe werden zensiert (Sex, Nacktheit, Gewalt – und viele Wörter, von denen der Generator denkt, dass sie damit in Zusammenhang stehen). Zudem werden häufig abgefragte Themen perfekter dargestellt, allen voran als begehrenswert eingestufte junge Frauen. Aber auch Roboter und Luxusartikel – während es bei anderen schwieriger ist, ein glaubwürdiges Ergebnis zu erzielen. Pflanzen beispielsweise. Ich habe ungewollt sehr viele virtuelle Pflanzen erschaffen, die niemals lebensfähig wären, die dafür aber irrsinnig interessant aussehen.
Midjourney erzeugt ästhetische, aber stereotype Bilder
Es ist nicht leicht, gegen die gestalterischen Algorithmen von Midjourney anzukommen. Das Programm nutzt standardmäßig pro Bild praktisch nie mehr als zwei, drei Farben (abgesehen von Schwarz, Grau und Weiß). Die Platzierung im Bild ist erwartbar (meist mittig) und schwer steuerbar, selten ist eine Perspektive außergewöhnlich. Das Werkzeug hat unsere visuellen Regeln und den Massengeschmack verinnerlicht. Das führt zu sehr ästhetischen, aber auch stereotypen Ergebnissen. Midjourney ist das perfekte Werkzeug für Kreativ-Profis aus der Werbung, deren Alltag es ist, Ideen am Schreibtisch zu entwickeln. Für sie ist das neue Tool befreiend. Sie sind nun nicht mehr auf große Budgets und die Zusammenarbeit mit anderen angewiesen, und die ansprechende Ästhetik ist garantiert. Obendrein haben sie Einfälle zuhauf. Ich sehe online jeden Tag verrückte Motive, fantastische Architektur und verblüffende Kleidung. Es gibt Männer, die auf Würsten Schlitten fahren, Messestände aus Blütenblättern, Kleider aus Milch.
Was die Midjourney-KI also sehr gut kann: glatte, originelle Bilder, die unseren Sehgewohnheiten schmeicheln. Das macht sie so bestechend. Es gibt allerdings einen Unterschied darin, wer die Bilder promptet, also wer den Befehl eintippt. Wer vorher schon kreativ tätig war, nutzt, so mein Eindruck, das Werkzeug anders als nicht-professionelle Nutzer. Was man sehr früh lernt in einem kreativen Beruf, ist, sich Kritik auszusetzen, von Kommilitonen, Kolleginnen, der Öffentlichkeit, dem Markt. Und die kann sehr ungnädig sein. Bevor man also etwas in die Welt befördert, überlegt man sich gründlich, warum und für wen man das tut.
Andere Nutzerinnen und Nutzer sind da unbefangener. Was auf Midjourney in großer Zahl an mir vorbeigezogen ist: eine Zeit lang auffällig viele Frauen im Wet-T-Shirt-Look (nackte werden zensiert), heldenhaft aussehende Männer, Fantasymotive, Cyborgs, Tattoos, die ich so ähnlich schon von Oberarmen und Unterschenkeln aus der U-Bahn kannte, und immer wieder Katzenbilder. Es ist überraschend, wie oft Klischees und Stereotype erzeugt werden und wie eng die Themenwahl dann häufig doch ist.
Anders als mit der Kamera kann man sich mit KI die Welt nicht erschließen. Man erfährt allerdings viel über die Wünsche der Menschen. Und das kann – trotz all der Möglichkeiten, die KI eröffnet – ziemlich ernüchternd sein. Am Ende spielt der Faktor Mensch eben doch noch eine große Rolle.