Sophie Calle Die Lust am Spionieren

Fast jeder hat es schon mal getan: in fremden Schubladen gestöbert, heimlich Tagebücher gelesen oder Nachbarn beobachtet. Die erfolgreichste Künstlerin Frankreichs erklärt ihren Hang zum Voyeurismus zur Kunst.

Wenn man vor ihrem Haus im Pariser Vorort Malakoff steht, glaubt man, sich in der Adresse geirrt zu haben. Ist das eine Fabrik? Oder eine Autowerkstatt? Aber dann summt die Sprechanlage, eine Stimme ruft in französisch gefärbtem Englisch "Kööm iin" - und ein kleines Paradies tut sich auf: die merkwürdige, schöne, eigenwillige Welt der Sophie Calle. Üppig wuchern allerhand exotische Pflanzen im Innenhof, irgendwo aus diesem Dschungel ruft es "hallo", und dann steht sie da: die erfolgreichste Künstlerin Frankreichs, klein, schmal, im Minirock und mit nackten Beinen.

Statt Betten machen in Schubladen stöbern

Sophie Calle macht das, was jeder gern tun würde: Sie spioniert anderen Leuten hinterher. Ihre Fotos, Texte und Notizen erklärt sie dann zu Kunst. Angefangen hat alles damit, dass sie auf der Straße irgendwelche Fremden verfolgte und fotografierte. Dann bat sie ihre Mutter, einen Detektiv zu engagieren, um die eigene Tochter zu überwachen. Hinterher weidete sich an den Ergebnissen, die der ahnungslose Schnüffler geliefert hatte: ein bespitzelter Spitzel.

Auf die Spitze trieb Sophie Calle ihren Voyeurismus, als sie sich als Zimmermädchen in einem venezianischen Hotel anstellen ließ. Statt die Betten zu machen und Staub zu wischen, stöberte sie in Schubladen, las fremde Tagebücher und analysierte den Abfall im Papierkorb. Das ging nicht lange gut, sie wurde erwischt und flog raus. Aber die Fotos und Texte, die in dieser Zeit entstanden, blieben. Mit vielen anderen Werken von Sophie Calle werden sie vom 10. September an in einer Ausstellung im Berliner Gropiusbau und in der Galerie Arndt und Partner zu sehen sein. Eine Art von Gesamtkunstwerk ist auch Sophie Calles Wohnung. Denn die Künstlerin lebt nicht allein, sondern mit Dutzenden von Tieren - alle ausgestopft. Mitten im Wohnzimmer räkelt sich ein Tiger dem sie eine Glasperlenkette um den Hals geschlungen hat.

Früher gehörte er einem Zirkus. "Ich habe ihn nach einem meiner verflossenen Liebhaber benannt", sagt sie. "Den Namen kann ich natürlich nicht verraten." In der Küche glotzen zwei Bullen von der Wand, die bei einem Stierkampf ihr Leben ließen. Mehrere Flamingos stehen stelzbeinig herum, auf dem Treppenabsatz scheint ein Fuchs zu schlafen, vor dem Schlafzimmer wachen zwei Eulen und unter einem Glassturz turnen possierlich ein paar Äffchen herum. Überall sitzen kleine Vögelchen, räkeln sich Maulwürfe, Mäuse und Schlangen. Das einzige lebendige Wesen außer Sophie ist eine Katze mit dem Namen Maus (französisch: Souris). Etwas irritiert stromert sie zwischen ihren toten Artgenossen umher.

"Wollen Sie ein wenig Huhn?"

Sophie Calle öffnet die Kühlschranktür, und da ist noch ein totes Tier drin, ein Huhn. Ganz nebenbei packt sie es in den Ofen, zupft noch ein bisschen Salat, schnippelt Tomaten, entkorkt eine Flasche Rotwein - und schon ist das schönste Essen fertig: "Wollen Sie ein wenig Huhn?" So sitzen wir und kauen, reden und trinken, und die beiden Stiere aus der Camargue gucken zu.

"Kein Wort über meine Boyfriends, meine Ängste, mein Alter, mein Gewicht und meinen Friseur", stellt sie erst mal klar. Egal, es gibt genug anderes zu fragen. Warum etwa wollen so viele Leute Teil von Sophie Calles Leben werden?

Der wildfremde Mann aus Californien zum Beispiel, der darum bat, in Sophie Calles Bett schlafen zu dürfen, um seine große Liebe zu vergessen. "Ich mochte seinen Brief und seinen Stil zu schreiben", sagt sie. "Aber bei mir zu Hause wollte ich ihn nicht haben. Außerdem war da schon ein Mann in meinem Bett. Also ließ ich mein Bett einpacken und schickte es ihm nach San Francisco."

Oder Paul Auster. Der New Yorker Schriftsteller hatte bei ihr angefragt, ob er ihr Leben für einen Roman benutzen dürfe. Sie ließ sich das Manuskript schicken und fand es "sehr schön". Nun ist sie ein Teil des Romans "Leviathan". "Marie ist zwar blond, 30 Jahre alt und Amerikanerin. Aber sie arbeitet als Zimmermädchen, verfolgt Leute, hebt alle ihre Geburtstagsgeschenke auf. Genau wie ich."

Sophie Calle polarisiert

Sogar der Londoner Skandal-Künstler Damian Hirst, bekannt für seine Haie und Kühe in Formaldehyd, drängte sich in ihr Leben und schickte ihr einen Fragebogen, den sie brav ausfüllte und veröffentlichte. Weil sie selbst ständig in das Leben Fremder eindringt und ihre Geheimnisse oder allerprivatesten Gewohnheiten ausspioniert, denken viele, sei könnten auch Sophie Calle zu nahe treten. Voyeurismus als Tabu und Faszinosum.

Manche Menschen allerdings wehren sich dagegen, von Sophie Calle vereinnahmt zu werden. Der Besitzer des Adressbuches etwa, das sie irgendwann fand. Jeder andere hätte die Kladde so schnell wie möglich zurück gegeben. Nicht aber Sophie Calle. Sie schickte das Büchlein zwar zurück, fotokopierte vorher aber alle Seiten. Dann begann sie, darin herumzustöbern. Eine Telefonnummer nach der anderen rief sie an, fragte, recherchierte und setzte so ein Charakter-Bild des unbekannten Adressbuch-Besitzers zusammen. Die Ergebnisse veröffentlichte sie 28 Tage lang in der Pariser Zeitung "Libération" - sehr zum Ärger des Betroffenen. Der war irgendwann so sauer auf Sophie Calle, dass er seinerseits zu stöbern begann, ein Aktfoto der Künstlerin fand und das ebenfalls in "Libération" veröffentlichte.

Ein Racheakt, der Sophie Calle nicht wirklich traf, weil sie mal als Stripperin gearbeitet hatte und kein Problem mit ihrem nackten Körper hat. Ärgerlich findet sie nur, dass der Typ jedes Treffen mit ihr verweigerte. Er schien nett und höflich zu sein, ein Opern- und Zigarrenliebhaber, der gern nach Italien fährt und Filme mit Jerry Lewis mag - all das hatte sie herausgefunden. Deshalb war sie über seine Abfuhr richtig enttäuscht: "Ich hätte ihn so gern kennen gelernt."

Ihr letztes Projekt ging Sophie Calle stärker ans Herz als alle früheren. Da wurde sie nämlich in eine wirkliche Tragödie hineingezogen. Eine junge Frau, Wärterin im Louvre, war verschwunden. In ihrem Tagebuch hatten die Eltern den Satz gefunden: "Ich möchte leben wie Sophie Calle." Deshalb nahm die Polizei Kontakt zu der Künstlerin auf. Und die war sofort gefesselt von der Geschichte und begann zu recherchieren: Wer war diese Bénédicte? Warum hatte sie ihre Wohnung und alle ihre Fotos in Brand gesetzt? Wohin war sie verschwunden? Sophie Calle fotografierte ihre Wohnung, sprach mit den Eltern, sammelte, was sie kriegen konnte - und machte daraus ein weiteres Kunstwerk.

"Bénédicte gab mir diese Idee"

Diesmal aber ließ das Thema sie nicht mehr los. Bénédicte spukt ihr immer noch im Kopf herum. Sie plant nun ein größeres Projekt über Verschollene. "Bénédicte gab mir diese Idee", sagt sie. "Jeden Tag verschwinden Menschen in Frankreich. Manche sind tot, die meisten wollen einfach nur anders leben als bisher." Und Bénédicte? "Ich weiß es nicht."

Sophie Calle lebt mit dem Tod. Vom Esstisch aus blicken wir auf eine Wand, die komplett mit alten Marmortafeln von Urnengräbern bepflastert ist. "Friedhöfe sind etwas Schönes", sagt sie. "15 Jahre lang ging ich jeden Tag an Gräbern vorbei, um zur Schule zu kommen. Für mich war das einfach ein Garten mit Blumen und Steinen, auf denen seltsame Dinge zu lesen waren."

Die Katze Souris steicht um unsere Beine. "Am Anfang war sie irritiert von ihren ausgestopften Artgenossen. Inzwischen hat sie sich dran gewöhnt. Aber wenn sie sterben würde, dann könnte ich sie nicht ausstopfen lassen, das fände ich doch zu traurig." Wer weiß schon, was morgen ist. Vielleicht findet Sophie Calle wieder irgend einen Interessanten Gegenstand, vielleicht meldet sich ein aufregener Mensch bei ihr. Sie ist offen und weiß: "Alles kann geschehen. Jeden Moment kann das Leben sich komplett verändern."

Ausstellung in Berlin, Martin-Gropiusbau, 10.9. bis 13.12. und in der Galerie Arndt und Partner, 8.9. bis 23.10. Katalog im Prestel Verlag, 444 Seiten, 69 Euro

print

Mehr zum Thema