Antoine steht an seiner Werkbank, die Hände um eine holzartige Form gelegt, die er mit aller Kraft im Kreis dreht. Bunte Bänder halten ihre Schale zusammen. Alt sieht sie aus, fast schäbig, doch Antoine füllt immer wieder Gips in ihr Inneres. Durch die Bewegung soll sich die Flüssigkeit gleichmäßig verteilen. Ob die Form halten wird? "Keine Sorge, sie ist 130 Jahre alt", sagt Eric-Etienne Nadeau, Chef von Antoine und Inhaber der Gipsgießerei Lorenzi. "Aus ihr wird später die Venus von Milo entstehen."
Das Atelier in Arcueil südlich von Paris ist eines der letzten seiner Art. Seit 1871 werden hier historische Büsten, Statuen und Totenmasken gefertigt. Zum Sortiment gehören etwa 2000 Modelle. Sie hängen von den Decken, säumen die Wände, manche von ihnen gruppieren sich in reichlich illustren Runden: Da steht der Dichter Homer neben Napoleon, Julius Cäsar bei Michelangelos David, und die griechische Göttin Aphro-dite ist auch nicht weit. Ein paar deutsche Geschichtsgrößen lassen ebenfalls grüßen: Auf einer mit Gipsspritzern gesprenkelten Werkbank steht Ludwig van Beethoven, neben ihm liegt Friedrich Nietzsche.
Wer das zweistöckige Gebäude erkundet, macht einen Streifzug durch die Epochen. Eine chronologische Reihenfolge fehlt, aber genau das macht den Charme aus. "Es ist, als stünde die Zeit hier still", sagt Nadeau, der die Firma 2019 kaufte. Über vier Generationen hatte sie den Lorenzis gehört, einer Familie aus Lucca in Norditalien, die einst nach Frankreich ausgewandert war, um ihre Abgusswerkstatt in der Pariser Rue Racine zu gründen. 1944 zog das Unternehmen nach Arcueil, wo es aktuell in einem senfgelb getünchten Gebäude untergebracht ist.
Nadeau entdeckte Lorenzi durch Zufall. Als Landschaftsarchitekt, der für Freizeitparks wie Disneyland Hügel, Tunnel und Miniaturbauwerke plante, suchte er nach einem Atelier, das für ihn historische Säulen nachbauen konnte. "Schon bei meinem ersten Besuch faszinierte mich das Traditionshandwerk", erzählt der 60-Jährige. Als niemand aus der Lorenzi-Familie das Atelier weiterführen wollte, griff Nadeau kurzerhand zu.
Heute arbeiten sechs Leute für ihn, fünf davon Frauen. Nicht immer ist der Gussprozess so kraftraubend wie bei Antoine. Denn seit einiger Zeit fertigen sie bei Lorenzi auch Statuen aus flüssigem Kunstharz. Das Material ist leichter und günstiger als Gips, auch trotzt es der Witterung. Gegossen werden die Kunstharzvarianten in Muldenformen aus Silikon. Fast so, wie man es vom Kuchenbacken kennt.
Kunstharzstatuen sorgen für täuschend echte Effekte
Holz, Bronze, Terrakotta, Marmor oder Stein: Es gibt kaum ein Material, nach dem man Kunstharzstatuen nicht aussehen lassen kann. Für die täuschend echten Effekte sorgt Mitarbeiterin Isabelle im Anschluss mit Pinsel und Farbe. Im Gegensatz zu den staubigen Werkstätten im Obergeschoss erinnert ihr Arbeitsbereich an den eines edlen Salons. Die Wände schmücken blaue Tapeten und weiße Masken, Isabelle selbst trägt Kittel und Handschuhe. Vorsichtig tunkt sie ihren Pinsel in bräunliche Farbe und tupft sie auf eine Büste von Hermes, was den griechischen Gott, eigentlich frisch gegossen, künstlich altern lässt. Nach einigen Stunden glänzt er mit bronzefarbener Patina.
"Historische Statuen erzählen Geschichten und sind wie ein Anker in schnelllebigen Zeiten", sagt Nadeau, der die Figuren in alle Welt verkauft. Die bekanntesten aber bleiben oft in Frankreich. Als Statuen vor der Nationalversammlung zu zerfallen drohten, ersetzte er sie durch Kopien aus Kunstharz. Auch in Versailles stehen Lorenzi-Statuen, ebenso in vielen Amtsstuben. Meist findet man dort Büsten der Marianne, der Nationalfigur Frankreichs.
Den größten Umsatz aber macht Nadeau mit der Totenmaske einer Frau, die als "Unbekannte aus der Seine" berühmt wurde. Um 1890 soll sie in Paris ertrunken sein, ihr Gesicht habe den Erzählungen nach so lieblich ausgesehen, dass der Leichen-beschauer die Lorenzis bat, einen Abdruck ihres Gesichts zu nehmen. Bis heute ist die Maske, die auf Französisch "L’Inconnue" heißt, im Besitz der ehrwürdigen Firma. Nadeau bewahrt sie in einer schlichten, mit feiner Holzwolle ausgelegten Kiste auf. Man erkennt sofort, was sie so begehrt macht: Ihr zu einem Lächeln geformter Mund erinnert an Leonardo da Vincis "Mona Lisa". Es sieht aus, als läge darin die ganze Welt.
"Mona Lisa" aus der Seine
Bis heute wurde das Abbild der unbekannten Frau massenhaft reproduziert. Bei Lorenzi kostet es 210 Euro. Kein Schnäppchen, aber da Gesicht und Geschichte Künstler und Literaten wie Pablo Picasso, Man Ray und Rainer Maria Rilke inspirierten, spielt "L’Inconnue" ihren Preis mit Leichtigkeit ein. Dass ihr Antlitz auch die Wiederbelebungspuppe "Resusci Anne" ziert, wissen nur wenige. "Ich nenne sie deshalb die meistgeküsste Frau der Welt", sagt Nadeau.
Zwar gilt seine Firma als traditionsreich, doch ist ihre Zukunft nicht in Stein gemeißelt. Lorenzi hat Konkurrenz bekommen, nicht aus China, sondern durch den Pariser Louvre. Längst betreibt das Museum hauseigene Werkstätten. Dort werden viele Statuen, die in französischem Staatsbesitz sind, gefertigt und auch restauriert. "Das bedroht unsere Existenz", sagt Nadeau. Aufgeben? Kommt für ihn nicht infrage. Weil das Gebäude in Arcueil renovierungsbedürftig ist, will er demnächst umziehen. "Im Süden ist das Leben günstiger", sagt der Chef. Wo er produziere, sei ihm egal. "Hauptsache, Lorenzi lebt weiter."