Um die Jahrtausendwende war in einer Hamburger Spelunke namens "Tschüß, mach's gut" ein Mann vom Barhocker gefallen. Ein anderer Gast versuchte daraufhin, die Schnapsleiche mit einem Schluck Rotwein wiederzubeleben, was einigen griesgrämigen Rockern am Tresen missfiel und schnell eine brenzlige Situation hervorrief. Gerade als einer zudreschen wollte, öffnete der Besoffene am Boden die Augen und sagte: "Udo Kier, der größte Schauspieler der Welt. Ich muss im Himmel sein!"
Der Gag dieser Anekdote: Der Kneipengast war tatsächlich Udo Kier, der in Hamburg weilte und wie so oft mit seinem Fotografenfreund Jan Riephoff um die Häuser gezogen war. Von all den anderen großen Namen Hollywoods, zu denen er zweifelsfrei gehört, unterscheidet ihn Wesentliches: Der Mann, der in über 250 Kinofilmen spielte, blieb stets der "Kölsche Jung", trotz maximaler Exaltiertheit auf seine besondere Weise bodenständig.
Aus den Trümmern von Köln auf die große Leinwand
Udo Kiers Leben hatte bereits als Drama begonnen, in den Trümmern der zerbombten Rheinmetropole Köln, wo er und seine Mutter wenige Stunden nach seiner Geburt verschüttet worden waren. Dort sollte er auch Rainer Werner Fassbinder in einer Arbeiterkneipe kennenlernen, der ihn entdeckte, aber nicht als Schauspieler, sondern als Schönheit. Sie machten Fotos des jungen Kier und verhökerten diese. Jahre später sollten sie auch miteinander drehen und sich in Schwabing eine WG teilen. Unter den wichtigsten Regisseuren der atemberaubenden Karriere von Udo Kier nimmt er aber keinen vorderen Platz ein. Da stehen ganz andere Namen: Andy Warhol, Lars von Trier, Christoph Schlingensief, Werner Herzog, Gus van Sant.
In den Siebzigern wurde Kier neben Alain Delon und Helmut Berger als einer der schönsten Männer Europas gehandelt, die alle um die Gunst des homosexuellen Starregisseurs Lucchino Visconti buhlten. Die ganz großen Hauptrollen in bedeutenden Filmen hatte er hingegen nie. Aber nach diesen Maßstäben sollte man sein Lebenswerk nicht betrachten.
Udo Kier war immer eine Ausnahmeerscheinung. Nicht nur wegen seiner Schönheit, den bestechend einnehmenden Augen, sondern aufgrund seines Selbstverständnisses. Kier war nie Kunstschaffender, er war sich selbst das Kunstwerk. Die unzähligen Fotografien, die es von ihm gibt, sind Teil seines Schaffens, hatte er doch stets eine ganz eigene Idee, sich zu zeigen. Am nachhaltigsten bleibt vermutlich seine Mitwirkung an einem der bedeutendsten Fotoprojekte des Starfotografen Steven Meisel, der 1992 mit Superstar Madonna den gigantischen Fotoband "Sex" inszenierte. Kier war neben Isabella Rossellini und Naomi Campbell einer der wichtigsten Protagonisten des Projekts und auch der mit den gewagtesten Aufnahmen. Man sah ihn in Lack und Leder und in homoerotischen Szenen mit nackten Jünglingen, die er auf allen Vieren an Leinen führte.
Udo Kier war ein freundlicher Mensch
Udo Kier war immer ein Meister der Pose und galt auch deshalb in den USA als Gegenentwurf zu all der bundesrepublikanischen Biederkeit, er war der Deutsche mit Appeal. Man wusste um seine Lust am Exzess und an der Grenzüberschreitung, er hatte aber auch eine eiserne Disziplin, ohne die seine Karriere niemals möglich gewesen wäre. Zudem war Kier aber auch ein guter Typ, ein freundlicher Mensch. Zu seinen Ritualen gehörte es, sich an jedem Filmset erst einmal mit den Leuten aus den Gewerken bekannt zu machen – auch als Strategie: "Schließlich sind die Leute an den Scheinwerfern verantwortlich, dass ich in einem guten Licht erscheine", scherzte er einmal.
"Natürlich stehe ich gerne im Licht, im Schatten sieht mich doch keiner", sagte Kier in dem Arte-Film "Der wunderbare Udo Kier" des Dokumentarfilmers Jobst Knigge.
Udo Kier konnte alles, er konnte auch Trash. Viele Male spielte er Adolf Hitler, dem er nicht im Ansatz ähnlich sah. Ein Höhepunkt seines Schauspiels erlebte man in David Schalkos TV-Serie "Altes Geld" und ganz besonders in dem Film "Swan Song", der ihm persönlich am Herzen lag: Darin spielte Kier 2021 einen früheren Starfrisör, der noch einmal sein Altersheim-Dasein verlässt und in einem Schwulenclub aufblüht.
Er ist sich selbst ein großes Kunstwerk
Alles, was Udo Kier umgab, hatte Anspruch, Stil. In seinen Häusern in Hollywood oder in Palm Springs, wo er eine frühere Bücherei ausbaute, hingen Werke bedeutender Künstler, etwa von Rosemarie Trockel oder Sigmar Polke. Er sammelte bereits Mid-Century-Möbel, als das noch nicht angesagt war. Kiers Aura fordert aber auch die Menschen um sich heraus. Als er einmal in München für den Polizeiruf drehte, ließ er sich von der englischen Luxusautomobilfirma Bentley mit einer Limousine ausstatten, mit der er zu den Drehs kutschiert wurde. Zum Schluss lud er Schauspielkollegen wie Edgar Selge, Sunnyi Melles oder Michaela May in seine mehrstöckige Präsidentensuite im "Palace Hotel" und begrüßte sie mit zwei nackten Boys in der Sauna sitzend. Natürlich war auch diese Inszenierung am Ende ein Fotoshooting und Kunstprojekt.
Wo Udo war, da herrschte Auftrieb, da war auch Show. Als er einmal in Hamburg ausgehen wollte, bestand er darauf, dass seine Gesellschaft von fünf Herren, mit denen er durch die Nacht zog, in Fracks antanzte, er selbst hatte sich einen besonders spektakulären vom Modemacher Bent Angelo Jensen anpassen lassen. Unweigerlich wurde man zu seinem Nebendarsteller, aber auch zu einer Art "Partner in Crime". Dieses Kunst-Konzept, das sein Leben war, dachte er auch zu Ende: Schon mit Anfang 50 mietete er sich für 3000 Dollar im Monat eine Grabstelle neben Regielegende Cecil B. DeMille. Am 23. November verstarb Udo Kier im Alter von 81 Jahren.