Auf der Demenzstation Unsere Autorin arbeitet auf einer Demenzstation – hier erzählt sie vom Leben, Leiden und Lachen dort

  • von Jutta Jensen
"Ihr alle, ja, genau ihr, seid doch einfach zu blöde!"   Solche Sprüche, aber auch Komisches und Berührendes erlebt unsere Kolumnistin täglich bei ihrer Arbeit als Quereinsteigerin auf einer Demenzstation
"Ihr alle, ja, genau ihr, seid doch einfach zu blöde!" 
Solche Sprüche, aber auch Komisches und Berührendes erlebt unsere Kolumnistin täglich bei ihrer Arbeit als Quereinsteigerin auf einer Demenzstation
© Illustration: Sonja Danowski / stern
Jutta Jensen arbeitet dort, wo niemand im Alter landen will – auf einer Demenzstation. Als Quereinsteigerin erlebt sie dort täglich, was Pflege wirklich bedeutet. 

Ich arbeite dort, wo niemand landen möchte – auf einer Demenzstation. Ich bin eine sogenannte Betreuungskraft nach § 43b SGB XI, Sozialgesetzbuch. Ich werde auch Präsenzkraft genannt, was meiner Meinung nach die Anforderungen an meine Tätigkeit besser beschreibt. Denn ich muss besonnen reagieren: auf heftige Gefühlsausbrüche, verschüttetes Mittagessen oder umherlaufende Personen ohne Unterhose. Auch wenn jemand in den Mülleimer pinkelt oder stundenlang im Abstand von zwanzig Sekunden exakt dieselbe Frage stellt.  

Als Seiteneinsteigerin in der Pflege verbringe ich wertvolle Zeit mit Schwerstkranken. Die Auswirkungen von Alzheimer oder Parkinson sind für jeden einzelnen Betroffenen brutal, da gibt es nichts zu beschönigen. Trotzdem, an meinem Arbeitsplatz wird gelebt, gerauft, geraucht, malocht; und ab und an werden tiefsinnige Gespräche geführt. Ich höre Sätze, die mit japanischen Kurzgedichten, den Haikus, mithalten können.  

"Die sieben Fische müssen heute raus, aber nicht aus der Truhe, denn ich bin Frau und erwarte Gäste neben der Katze. Du mein Liebling."  

Infos zur Autorin

Jutta Jensen war 25 Jahre als Kulturschaffende tätig, dann kam die Pandemie und damit der berufliche Knick. Während des Lockdowns half sie im Ehrenamt in einem Altenheim und entdeckte dabei ihren neuen Beruf. Nach einer Weiterbildung arbeitet sie heute in einer Großstadt als Präsenzkraft auf einer Demenzstation.  Ihren echten Namen nennt sie nicht, um ihre Senioren und sich zu schützen. 

Neben leise existiert auch laut, also richtig Tamtam. Wenn etwa die selbsternannte Direktorin, hier ist von einer Bewohnerin die Rede, im Esszimmer die Anwesenden mit ihrem Zeigefinger dirigiert und dabei keift: "Ihr alle, ja, genau ihr, seid doch einfach zu blöde!" Die Direktorin legt gern eine Schippe drauf und am Ende tragen wir sie zu zweit auf ihrem Stuhl in ihr Zimmer.  

Aber das ist die Ausnahme. Eigentlich schätze ich die Direktheit mancher Bewohnerinnen: "Mensch, zieh dir mal was Ordentliches an!" (meine Bluse hat Knitterfalten) oder: "Du siehst ja aus wie ein Frosch." (Ich habe ein neues Brillengestell) oder "Schade, dass die Kleine so komische Lippen hat." (Die neue Pflegekraft hat mit Botox nachgeholfen).  

Einen Papier-Löwen verspeist 

Natürlich mache ich Anfängerfehler, der Job ist schließlich komplex. Während meiner zweiten Woche habe ich den Geburtstagstisch für eine Jubilarin zu üppig dekoriert. Ich hatte mausgroße Löwen aus Papier ausgeschnitten und sie auf dem Tisch verteilt. Mit dem Ergebnis, dass eine Bewohnerin einen der Löwen in die Marmeladenschicht ihres Milchbrötchens tunkte und ihn kurzerhand verspeiste. Ich lernte: Wenn zahlreiche Gegenstände auf einem Tisch liegen, kann das Alzheimerpatienten irritieren. Auch muss ich genau erklären, was sich vor ihnen auf dem Teller befindet. Das Bestreichen einer Brötchenhälfte mit Butter wird für manche zur Herausforderung.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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In der modernen Pflege soll die Fähigkeit, ohne fremde Hilfe das Essen zum Mund zu führen, so lange wie möglich aufrecht erhalten werden. Oft schmerzt es mich, zwölf Seniorinnen und Senioren dabei zuzusehen wie sie sich abmühen, für uns Gesunde vollkommen alltägliche Bewegungen zu koordinieren. Eine Gabel sicher zum Mund führen, ohne das Essen zu verlieren. Seit ich in diesem Job arbeite, hat sich meine Demutskurve für alltägliche Verrichtungen deutlich nach oben bewegt.  

Sie schlafen fast alle in ihrem letzten Zimmer 

Mein Verantwortungsbereich hört an der Schwelle des Badezimmers sowie an der Bettkante auf. Ich mag an meinem Job, dass er wirksam ist und ich einer Generation beistehe, die in meiner Familie nicht mehr existiert, denn meine Großmutter und meine Mutter leben nicht mehr. Aber ich kenne ihre Kultur, die Romane und Sprichwörter sind mir vertraut und ich bin bei Schlagern fast so textsicher wie Dieter Thomas Heck. Ich empfinde Wertschätzung für jede einzelne Biografie. Auch wenn ich nicht alle gleich gern habe. Diese Frauen und Männer sind noch vor zehn Jahren Auto gefahren, sind gereist, waren bei der Freiwilligen Feuerwehr oder haben Hunde Gassi geführt und Hecken geschnitten.

Jetzt hat ihnen eine unheilbare Krankheit ihr kognitives Vermögen geraubt, sie stützen sich auf Rollatoren und können sich schwer artikulieren und wissen dabei oft ganz genau, in welchem Zustand sie gefangen, welchem Schicksal und nahendem Ende sie ausgeliefert sind. Sie schlafen fast alle in ihrem letzten Zimmer. Das sind schwierige Momente, auch für mich, wenn die Wahrheit und die vermaledeite Traurigkeit darüber im Raum stehen. Beschwichtigungen meide ich; ich halte das aus. Das Schweigen schafft Verbindung. Du bist nicht allein, obwohl du es alleine meistern musst. Eine ehrlich gehaltene Hand ist ein Heilmittel ohne Fallpauschale.  

Am Morgen, an dem ich den Geburtstagstisch deckte, weckte ich eine der Langschläferinnen, sie sollte das kleine Fest nicht versäumen, also klopfte ich an ihre Zimmertür mit der Frage "Haben Sie Lust auf eine Tasse Kaffee?" "Ja, sehr gern", war ihre Antwort. "Es gibt in diesem Kinderheim ja nur einmal im Jahr Kaffee."