Die Armut in Deutschland zu überwinden ist aus statistischen und logischen Gründen ausgeschlossen. Denn es gelten immer die Menschen als arm, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens beträgt. Wenn sich das Einkommen aller Einwohner verdoppelt, bleibt nach dieser Definition genau die gleiche Anzahl von Menschen arm. Deshalb ist das Ergebnis des jüngsten Armuts- und Reichtumsberichts, wonach 13 Prozent der Bundesbürger unter die Armutsgrenze fallen, keine Aussage über die tatsächlichen Lebensverhältnisse.
Im Armutsbericht des Bundesarbeitsministers wird keine Aussage darüber gemacht, wie sich der Lebensstandard der Armen in den letzten Jahren und Jahrzehnten verändert hat. Wenn von Armut gesprochen wird, würde man gerne wissen, ob und wie sich die Situation der Armen verbessert hat, denen der Staat ein Mindesteinkommen sichert. Es kann doch nicht nur auf den Neidfaktor ankommen, sondern zunächst wäre zu beschreiben, was sich ein armer Haushalt heute im Vergleich zu einem armen Haushalt vor zehn oder zwanzig Jahren leisten kann.
Zur Person
Johann Eekhoff ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln und war von 1991 bis 1994 Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft. Eekhoff ist Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM).
Altersarmut ist überwunden
Eine weitere wichtige Information ist, ob das selbst erwirtschaftete Markteinkommen verglichen wird oder das letztlich verfügbare Einkommen. Selbstverständlich klaffen die Markteinkommen der Bürger weit auseinander. Denn von den hohen Einkommen behält der Staat bis zu 47,5 Prozent, also fast die Hälfte an Steuern ein, um den Bürgern mit sehr geringen Markteinkommen oder ohne jedes Einkommen Transferzahlungen zu gewähren und ein Mindesteinkommen zu garantieren. Die Brutto- oder Markteinkommen zu vergleichen ist in einem Staat, der bewusst eine soziale Absicherung vorsieht und dafür Steuern erhebt, deshalb keine Beschreibung der tatsächlichen Situation der Bürger. Berücksichtigt man die Umverteilung in den Sozialversicherungen, dann wird sichtbar, dass in einem nie gekannten Maße Mittel für die soziale Sicherung eingesetzt werden.
Waren es in früheren Jahrzehnten vor allem die Rentner, die von der Sozialhilfe Gebrauch machen mussten, kann man heute sagen: Die Altersarmut ist überwunden. Weniger als 2,5 Prozent der Rentner müssen zusätzlich zu ihrer Rente und den sonstigen Einkünften die Grundsicherung im Alter in Anspruch nehmen.
Nach dem Berichtsentwurf wird ein Alleinlebender als arm angesehen, wenn er 781 Euro oder weniger verdient. Das ist, gemessen an internationalen Standards, ein respektables Einkommen. Dieser Bürger muss sich aber noch nicht mit 781 Euro zufriedengeben, sondern er hat Anspruch auf ergänzendes Arbeitslosengeld II. Das ALG II beträgt für alleinstehende Arbeitslose einschließlich der Sachleistungen und Versicherungen rund 900 Euro. Wenn dieser Bürger selbst Geld verdient hat, wird sein Einkommen über diesen Betrag hinaus um weitere 140 Euro auf insgesamt rund 1040 Euro netto aufgestockt. Für ein Ehepaar mit zwei Kindern wird vom Staat ein Mindesteinkommen von rund 2200 Euro netto gewährleistet. Außerdem können noch rund 300 Euro hinzuverdient werden.
Diese wenigen Zahlen belegen, dass die Menschen in Deutschland, die wenig verdienen, vom Staat aufgefangen werden. Niemand muss existenzielle Not leiden.
Lernen, und zwar lebenslang
Trotzdem wird darüber geklagt, dass ein Teil der Bürger aus eigener Kraft nur ein geringes Einkommen erzielen kann. Dafür wird unter anderem die Globalisierung verantwortlich gemacht. Das trifft insoweit zu, als es weltweit viele Arbeitnehmer mit geringer Qualifikation gibt. Wer keine besondere Qualifikation hat, muss sich deshalb vielfach mit einem niedrigen Lohn zufriedengeben. Allerdings sorgt die Globalisierung auch dafür, dass viele Produkte zu sehr niedrigen Preisen angeboten werden. Dadurch steigt das Realeinkommen: Die Kaufkraft wird durch preisgünstige ausländische Produkte kräftig erhöht.

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Ein weiterer Grund für relativ niedrige Löhne der Geringqualifizierten ist der Produktivitätsfortschritt. Es sind insbesondere die einfachen Tätigkeiten, die sich relativ leicht von Maschinen und Automaten erledigen lassen. Jeder Versuch, Mindestlöhne einzuführen, verschärft diesen Prozess. Der einzig erfolgreiche Weg besteht darin, seine Qualifikation zu verbessern, und zwar lebenslang. Wer dazu nicht in der Lage ist, bleibt in vielen Fällen auf staatliche Unterstützung angewiesen.
In jedem Fall muss die Gesellschaft verlangen, dass jeder Bürger seinen Lebensunterhalt so weit wie möglich selbst verdient - auch wenn ergänzende soziale Hilfen in Anspruch genommen werden müssen. Andernfalls ist die soziale Sicherung nicht zu bezahlen.