Am Ende dieses Sommers, der in weiten Teilen so herrlich normal, frei und fast wie früher war, spürte man noch etwas anderes: Mit dem alten Leben kam der alte Wahnsinn wieder, das Gehetztsein, der überladene Alltag. Die Flughäfen waren wieder zu voll, die ICEs sowieso, einmal hörte ich sogar diesen Spruch: Ich könnte wieder einen Lockdown vertragen.
Das war natürlich nicht ernst gemeint, es war nur ein Zeichen: Da war doch was. Es war die Erinnerung an die Einsichten, die diese Pandemie bei allem Tod und Schrecken gebracht hatte: Wir waren runtergekommen, hatten innegehalten, das Leben wieder gespürt, Zusammenhalt erlebt, Familie gelebt, Alltag entrümpelt. So wie die Luft klarer und der Himmel blauer geworden waren, wurde unser Leben ruhiger und intensiver. Wir waren auch schneller geworden, digitaler, es gab den "Booster im Büro", den ganzen, oft erzählten Fortschritt. Die große Frage war, wie viel von diesem neuen Leben man mit dem alten verbinden könnte, wenn dieses zurückkehrte.
In diesem Sommer ging es den meisten Menschen darum, das Verpasste nachzuholen: verreisen, essen, feiern, Theater, Kino, Konzerte, Partys. Das war gut, das tat gut. Mit der Normalität kam auch der alte Lärm. Und so haben viele die neue Balance gesucht, die Synthese aus Davor und Danach. Was im Büro mit Formeln wie 2+3 für Ab- und Anwesenheit umschrieben wird.
Wir müssen uns an die "vorhersehbaren Unvorhersehbarkeit" gewöhnen
Dann kam die vierte Welle. Dann Omikron. Das hat uns zweimal erschüttert, hat Sicherheit genommen. Und noch etwas wird klar: Wir werden nichts Gutes mehr entdecken. Die Vorteile haben wir ausgereizt, den Fortschritt genutzt.
Es ist nicht mehr toll, dass jetzt so viel auf Teams, Zoom oder Slack geht. Es ist gelernt und stresst auch, es ist nicht aufregend, sondern ermüdend. Zu Hause sein heißt oft eingeschlossen sein (oder Quarantäne) statt Innigkeit. Schule in Präsenz statt Homeschooling bedeutet auch Infektionsgefahr. Unsere Beziehungen sind genauso unter Stress wie die Lieferketten. Es nervt einfach nur noch.
Im kommenden Jahr werden wir von noch weniger Polstern zehren, wir sind gereizter, erschöpfter – und gespaltener. Sechs Monate waren 2021 relativ "normal", wie viele werden es 2022 sein?
Wir müssen damit rechnen, dass wir uns bis 2023 oder darüber hinaus zwei- bis dreimal pro Jahr werden impfen lassen müssen, gegen alte und neue Virusvarianten. Dass wir eine Gesellschaft bleiben, die vertröstet wird, die plant und wieder absagt, öffnet und schließt, in der sich früher oder später jeder ansteckt, in der Ausnahmezustand und Normalität immer mehr verschwimmen. Der "Economist" hat das mit dem schönen Begriff der "vorhersehbaren Unvorhersehbarkeit" geprägt, die unsere Welt prägt. Neue Normalität kann heißen, dass es keine Normalität gibt.
Das größte Risiko ist, dass unsere Kräfte verschleißen, die doch für andere große Aufgaben gebraucht werden

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Die größte Katastrophe ist, dass uns der Impfstoff spaltet, der eigentlich Hoffnung bedeutet, der von Millionen abgelehnt wird, obwohl er der einzige Ausweg ist. Das größte Risiko ist, dass unsere Kräfte verschleißen, die eigentlich für andere Aufgaben gebraucht werden, für all das, was unter "Aufbruch" versammelt wurde. Eigentlich wollten wir dieses Land ja hochfahren statt runterfahren, wir sollen Fortschritt wagen und nicht Rückzug planen.
Das Gute ist: Wie groß das Fragezeichen 2022 hinter unserer Hoffnung ist, liegt auch in unserer Hand – oder besser: in einem Piks in unserem Arm, über eine Million Mal pro Tag, über Wochen und Monate. Wenn wir das Impfen wieder versachlichen, klarmachen, dass eine Spritze kein Kulturkampf ist, wenn wir jeden Booster so locker runterrattern wie einst Mumps, Masern, Röteln, dann bekommen wir das Virus und uns selbst in den Griff. Wir sind nicht hilflos, wir stehen uns nur selbst im Weg. Das lässt sich ändern.