Sechsmal die Stunde öffne ich in letzter Zeit die Wetter-App, als käme der Frühling schneller, wenn ich ihm digital Beine mache. Zum Dank schickt der Himmel Regen in all seinen Facetten: Platzregen, Dauerregen, Nieselregen.
Den Februar habe ich ganz gut überstanden, dann kam der März. Februar und März, die Erzfeinde der Leichtigkeit. Früher dachte ich, der Dezember wäre am schlimmsten, weil man da diese Holzhütten aneinanderreiht und den Straßenverkauf von Glitzerkitsch und Wurstbrötchen Weihnachtsmarkt nennt. Doch dann kam Corona, die Märkte fielen aus, und selbst das nervige Glühweingetue fehlte mir ein bisschen. Wie dunkel die Straßen ohne Holzbuden wirken, dachte ich.
Der Frühling kündigt sich endlich an
Gestern am frühen Abend war es zum ersten Mal seit Langem noch hell. Die Vögel im Park zwitscherten hektisch, als hätte ihnen jemand eine aufwühlende Nachricht überbracht. Vielleicht lag es an diesem ersten Versprechen von Frühling, auch ich flanierte endlich wieder sinnlos durch die Straßen, statt kälteverknittert von A nach B zu rennen.
Am Wochenende habe ich die ersten Krokusse blühen sehen. Die Osterglocken stehen so dermaßen aufrecht, immer als Bündel, als hätte jemand sie in eine Wiesenvase gestellt. Darf man in so aufgeladenen Zeiten diesen kleinen Dingen Raum geben? Gerade diagnostiziere ich mich als bedeutungsmüde: Alles ist mir zu wichtig, zu dringlich, zu groß. Jeden Morgen warten tausend Nachrichten aus dieser kaputten Welt. Natürlich verachte ich diese Wohlstandslitanei, natürlich will ich von den großen Fragen der Welt lesen und schreiben, will, dass wir unsere Lebenszeit nutzen und irgendetwas richtig machen für die Nachwelt. In der Oprah-Winfrey-Sprache käme an dieser Stelle ein schmalziges Video, das endet mit: "You have to make a difference!" Im März aber kann ich den Unterscheid nicht mehr machen, ich möchte lieber Krokusse zählen.
Eine Meldung jagt die Nächste
Es geht gefühlt seit Jahren ständig um alles: Kaum war die Pandemie ansatzweise überstanden, brach der Krieg in der Ukraine aus, schon vor diesem Krieg tobten andere Kriege, die Klimakrise hat ohnehin kaum jemand wirklich erfasst – alles klar. Doch selbst, ob ich Zucchini eher als Hauptgericht oder als Beilage esse, wird zum Politikum. Alles ist "Eil! +++" und "Wichtig! +++", lass uns reden!
Irgendwo unter all den Debatten und Eilmeldungen liegen sie vielleicht noch, die Poesie, der verschwenderische Blick auf den Moment. Früher las ich im Winter gern die Kurzgeschichten von Robert Walser, heute twittert man über Hafermilch. Ganz unpolitisch: Sie schmeckt mir auf der Zunge nicht. Robert Walser spazierte oft stunden- und kilometerlang durch seine Tage, vielleicht waren die Menschen auch damals schon zermürbend. Jedenfalls schrieb er am Ende des Tages Sehnsuchtszeilen in Kurzgeschichten, man mutet sich und den Lesern nicht immer gleich Romane zu.
Lieber Geschichten statt Fakten erzählen
Der Regisseur Werner Herzog hat einmal gesagt: Man erzähle nichts Erzählenswertes über eine Stadt, wenn man die Namen eines Telefonbuchs laut vorlese. Es brauche Geschichten jenseits der Fakten. Selbst die Höhlenmenschen hatten ihre Malerei an den Wänden. Manchmal, in diesen langen deutschen Wintern, frage ich mich: Wer malt eigentlich für unsere Zeit den ganzen Irr- und Schönsinn an die Wände? Oder sind wir nur noch verdammt zu Streit?
Ich schaue auf meine Wetter-App. Es ist 18.01 Uhr und noch immer hell. Bis Sonntag soll es regnen, steht da, aber danach kommt er, dieser Frühling, bestimmt.