VG-Wort Pixel

Jagoda Marinić Warum es hilft, auch mal negativ zu sein

auch wenn viele Wissenschaftler raten immer positiv zu denken, möchte unsere Kolumnistin mal so richtig das Negative rauslassen
auch wenn viele Wissenschaftler raten immer positiv zu denken, möchte unsere Kolumnistin mal so richtig das Negative rauslassen
© GETTY IMAGES
Wir sollen stets freundlich und achtsam sein, predigen Wissenschaftler. Unsere Kolumnistin aber glaubt fest an die Giftschlange in ihr.

Ein sehr geschätzter Kollege erzählte mir diese Woche eine Geschichte. Es ging darum, dass Menschen, die in Notsituationen um ihr Überleben kämpfen, mit höherer Wahrscheinlichkeit durchkommen, wenn sie an sich glauben. Oder wie das modern heißt: wenn sie positiv denken. Ich glaube, er wollte mir etwas Aufbauendes über die Menschheit und die Kraft des Einzelnen erzählen, so eine Geschichte, bei der im Hollywoodfilm die Geigen lauter werden. Doch mir ging plötzlich die Luft aus: „Ich kann das nicht mehr. Ich würde lieber auf meinen Überlebensinstinkt vertrauen dürfen, darauf, dass das Tier in mir nicht sterben will.“

Seit bald zwei Jahrzehnten terrorisiert mich der Mythos rund ums positive Denken, und jetzt, da selbst die Popsängerin Dua Lipa in ihrem Podcast von „Toxic positivity“ spricht, hoffe ich, bald das Ende der Ära dieses positiven Denkens feiern zu dürfen.

Natürlich will auch ich mein Leben meistern und am liebsten mit Philosophie, aber da lese ich lieber Seneca und Epiktet, die alten Philosophen. Die fassten sich noch kurz und sprachen ihre Einsichten nicht mit irgendwelchen Studien aus der Hirnforschung heilig. All diese Scanbilder von Gehirnen, die daliegen wie offene Walnussschalen und irgendwelche Aktivitäten zeigen, in die der moderne Mensch sei-ne nächste Verhaltensreligion projiziert.

Jagoda Marinić
© Gaby Gerster

Jagoda Marinić

Die Schriftstellerin und Politologin Jagoda Marinić („Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?“, „Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land“) schreibt alle zwei Wochen – im Wechsel mit Micky Beisenherz – im stern.

Auch ich war einmal fasziniert von alldem. Als ich bei Gerald Hüther erstmals von Spiegelneuronen las und verstand, wie sich die Gefühle des Gegenübers tatsächlich in unserem Gehirn spiegeln, war ich beeindruckt. Bis ein Hirnforscher, auch müde von den Gewissheiten seiner Zunft, ein Experiment machte: Er holte aus dem Supermarkt etwas Tiefgekühltes, scannte es, publizierte die Bilder und führte alle hinters Licht, um den Glauben an die Deutung von Hirnaktivitäten zu erschüttern.

Immer schön positiv!

Mit der Durchleuchtung des Hirns begann der Kult um Positivität und Selbstoptimierung. Teams sollen alle positiv miteinander umgehen, fein! Wenn ich aber Ricky Gervais und seine Netflix-Serie „Afterlife“ sehe, in der endlich ein negativer Mensch neben anderen negativen, also normalen Menschen im Büro sitzt, die aber im entscheidenden Moment liebevoll füreinander da sind, sehe ich darin mehr Menschlichkeit als in den meisten superoptimierten Teams, in de-nen ich vor lauter Glattheit nicht mehr weiß, an wem ich mich noch abreiben, will heißen: festhalten kann.

Bei zu viel Stress hilft Achtsamkeit

Mit positiver Haltung sollen wir auch Stress managen lernen. Ich habe einmal einen dieser Achtsamkeitskurse belegt von Jon Kabat-Zinn, wissenschaftlich natürlich supergeprüft. In acht Abenden lernt man, achtsam seinen Stress zu mindern. In der ersten Sitzung sollte ich auf einer Rosine herumkauen und genau darauf achten, was geschieht. Das braune Ding aber schmeckte schon nach kurzer Zeit durchgekaut. Ich schluckte es runter. Die Kursleiterin diagnostizierte, ich sei wohl besonders gehetzt. „Nein“, sagte ich, „ich tausche nur meinen funktionierenden Geschmacksinn nicht gegen Ihre Achtsamkeit.“

Leistung durch Wut

Ein Freund von mir, der immer zu viel arbeiten muss, bekam während seines betriebsspendierten Tai-Chi-Kurses einen Wutanfall: „Ich mach diesen Scheiß doch nur, um danach noch leistungsfähiger zu sein!“ Als er das erzählte, dachte ich still in mir, dass seine Firma zum Stressmanagement tatsächlich selten die 30-Stunden-Woche empfiehlt.

Die Oma dieses Freundes hat ihr Leben lang nie einen guten Satz gesagt und wurde gesunde 93. Wenn man fragte, was sie richtig mache, antwortete die Familie: „Das Gift, das sie spritzt, hält sie am Leben.“ Ich halte das nun für meine Wissenschaft!

Mehr zum Thema

Newsticker