Fast jeder vierte Deutsche hat ausländische Wurzeln. Ich bin eine der 19,3 Millionen mit Migrationshintergrund, die das Statistische Bundesamt gezählt hat. Man sieht es mir an, ich habe dunkle Haut, braune Augen und schwarze Locken (okay, ein paar graue sind auch dabei). Als ich mit 19 Jahren Marokko verließ und nach Deutschland kam, wurde ich mit offenen Armen empfangen. Inzwischen spreche ich Deutsch, träume deutsch, denke deutsch. Mein deutscher Mann und meine deutschen Kinder finden mich manchmal deutscher als sich selbst.
Ich habe mir lange schweigend angeschaut, wie die "deutschen" Deutschen ihr Land schlechtreden. Die Rechten begreifen nicht, dass sich alles verändert, und haben Angst vor dem, was sie nicht kennen. Bei den Linken ist es nicht viel besser, sie vertrauen immer noch auf ihre alten Rezepte, die noch nie funktioniert haben. Und alle anderen jammern: über die Rente, über die Bildung, über Merkel, über die Flüchtlinge. Sie ziehen sich zurück und wollen nicht mehr mitmachen. Nicht mehr wählen, nicht mehr gewählt werden, nicht mehr teilnehmen an ihrem Staat. Meine Timelines in den sozialen Medien sind voll von Mimimi und Gemecker. Nichts an ihrem Land scheint den "deutschen" Deutschen mehr zu gefallen.
Migrationshintergrund
Gut, dass es uns Deutsche mit Migrationshintergrund gibt. Wir lieben dieses Land, das uns aufgenommen, ausgebildet und uns Arbeit gegeben hat, und wir sind dankbar für die deutschen Bürger und die deutschen Politiker, die das ermöglicht haben. Ich finde, es ist Zeit, den Jammerlappen das Feld nicht mehr allein zu überlassen. Ich habe genauso einen deutschen Pass wie die Miesepeter und bin ganz anderer Meinung.
Für mich ist Deutschland das schönste Land der Welt. Es hat eine großartige, jahrhundertealte Kultur, ein angenehmes Klima und kluge, gebildete Menschen, die in großer Freiheit und Selbstbestimmung leben. Die jungen Leute können zur Schule gehen und fast gratis studieren, viele ältere Leute sind reich, haben schicke Autos und schützen die Umwelt. Es gibt wunderbares Essen, und das Wasser aus dem Hahn ist so klar und kühl, dass man es trinken kann. Homosexuelle können heiraten, und jeder kann anziehen, was er will. Die meisten Politiker sind nicht korrupt, und man muss keine Angst haben, dass Polizisten einem die Finger brechen, wenn man nicht genug Bestechungsgeld dabeihat. Die schönen Häuser der Deutschen müssen nicht vergittert werden wie Hochsicherheitsgefängnisse, und man kann essen gehen, ohne dass ein Security-Mann vor dem Restaurant mit der Pumpgun Wache schiebt. Deutschland ist eines der sichersten und tolerantesten Länder der Welt. Der Rechtsstaat funktioniert. Wem es schlecht geht oder wer nicht arbeiten kann oder will, der wird unterstützt.

Ich bin Pädagogin und habe nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland mit Kindern gearbeitet. Ich kann deshalb ganz gut an einem Beispiel aus meinem Beruf zeigen, was ich an Deutschland so cool finde. Es ist ein Beispiel aus einer Vorschule in Ecuador. Die Menschen hier sind mehrheitlich katholisch und ziemlich konservativ. Individualität, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung sind keine vorrangigen Erziehungsziele.
Eines Tages küsste der vierjährige José aus der Kindergartengruppe seinen Freund Manuel. Zu Hause erzählte er seinen Eltern: "Ich glaube, ich werde bald heiraten." Sein Vater lachte: "Wen denn?"
"Manuel, meinen besten Freund." José erzählte, dass er Manuel gernhabe und dass er ihn sogar schon geküsst habe. "Auf den Mund."
Plumpe, dumme Lüge
Der Vater hörte auf zu lachen. Er schrieb eine Nachricht an die Vorschule: "Mein Sohn hat Manuel auf den Mund geküsst. Bitte achten Sie darauf, dass das nicht mehr vorkommt." Meine Kolleginnen hatten eine Lösung parat: "Wir verbieten den beiden einfach das Küssen und sagen ihnen, dass man dadurch krank wird." Aus meiner Sicht eine ebenso plumpe wie dumme Lüge. Sollten José und Manuel jetzt glauben, dass ihre Eltern krank sind, weil sie sich küssen? Sollten die Kinder von nun an Küsse eklig finden?
In meinem Kindergarten in München hätten wir auf die Küsse gar nicht reagiert, wenn klar gewesen wäre, dass beide Beteiligten es wollen. Manchmal zogen sich zwei Kinder in die Kuschelecke zurück, während die anderen draußen waren. Wieso sollte ich das verhindern? Das sind harmlose, aber wichtige soziale Erfahrungen.
So viel Vertrauen in Kinder gibt es weder in meinem Geburtsland Marokko noch in Ecuador. Vielleicht hat Deutschland deshalb so viele starke, kreative Menschen und baut Porsche, BMW und Mercedes. Und Marokko und Ecuador nicht.
Neuankömmlinge
In der letzten Zeit hat sich Deutschland allerdings verändert. Die "deutschen" Deutschen haben ihr Vertrauen verloren. Zumindest das in ihr eigenes Land.
Ich glaube, es begann 2015, als Hunderttausende Flüchtlinge kamen. Ich war dabei, als sie in Sonderzügen am Münchner Hauptbahnhof eintrafen, erschöpft von ihrer langen, gefährlichen Reise. Es war ein bewegendes Erlebnis, und ich war sehr stolz, zu den vielen offenherzigen, wohlmeinenden Bürgern zu gehören, die die Fremden herzlich willkommen hießen.

Aber ich machte mir auch Sorgen, denn ich war eine der wenigen, die die Mentalität und Sozialisierung der Neuankömmlinge kannten. Ich bin zwar keine Araberin, sondern Amazigh, eine Berberin aus dem Süden Marokkos, komme aber aus einem arabischen Land und weiß, wie die Menschen dort sind. Außerdem spreche ich natürlich Arabisch und verstand, was die Flüchtlinge sagten.
Viele von ihnen waren junge Männer, für die ihre Familien gesammelt hatten, um die Schlepper zu bezahlen. Sie standen unter großem Druck: Ihre Angehörigen erwarteten, dass sie Geld nach Hause schickten, möglichst viel Geld. Ich ahnte schon, dass das nicht so einfach werden würde. Die meisten der jungen Männer hatten keine Ausbildung, kaum einer sprach Deutsch oder Englisch, keiner hatte Erfahrung mit der deutschen Kultur.
Marokko als sicheres Herkunftsland
Ich sage es ungern, aber einige arabische Männer akzeptieren Deutschland und die Deutschen nicht. Für sie ist es ein Land der Ungläubigen, in dem Frauen gleichberechtigt sind und Männer Männer küssen. Sie halten deutsche Frauen für "Schlampen" und deutsche Männer für Weicheier, weil sie die Gleichberechtigung zulassen.
Ich ahnte, dass all das zu Problemen führen würde. Und leider habe ich recht behalten. Eigentlich logisch. Natürlich gibt es Ärger, wenn Tausende testosterongesteuerte junge Männer in einer fremden Welt ohne Sprachkenntnisse und ohne Beruf in Sammelunterkünften und auf Straßen herumlungern. Und natürlich ist unter so vielen jungen Männern auch eine gewisse Anzahl von Schnorrern und Kriminellen, wie unter Deutschen auch. Das alles haben die "deutschen" Deutschen total unterschätzt, und plötzlich stellen sie fest, dass ihre Bürokratie dem nicht gewachsen ist. Deutschland schafft es noch nicht einmal, die Vergewaltiger, Kriminellen und Terroristen abzuschieben. Es wird zum Beispiel diskutiert, ob Marokko ein sicheres Herkunftsland ist. Da kann ich mich nur wundern. Selbstverständlich ist Marokko ein sicheres Herkunftsland, halt nur nicht für Kriminelle.

Viele "deutsche" Deutsche fühlen sich heute unsicherer in ihrem Land als früher. Aber damit sind sie nicht allein. Auch Menschen wie ich fühlen sich unsicherer, Menschen, die ein wenig anders aussehen als die "deutschen" Deutschen. Vor ein paar Monaten rempelte mich ein alter Mann auf der Rolltreppe in der Münchner U-Bahn an: "Geh doch dahin, wo du herkommst." Das war mir noch nie passiert. Die Münchner um mich herum reagierten allerdings souverän: "Geh du doch dahin, wo du herkommst, Sauhund, damischer", riefen sie dem Alten hinterher. Das war für mich ein gutes Gefühl.
Schade, dass manche nicht verstehen, wie wichtig und bereichernd Ausländer für Deutschland waren, sind und sein werden. Denn seien wir ehrlich: Dass Deutschland eines der großartigsten Länder der Welt ist, haben die Deutschen nicht allein geschafft. Das haben sie erreicht, weil Amerikaner, Franzosen, Kanadier, Briten und Russen die Nazis besiegt haben. Weil Türken, Portugiesen und Italiener als Gastarbeiter beim Wiederaufbau geholfen haben. Weil überlebende Juden blieben oder zurückkamen. Und weil viele Menschen aus anderen Kulturkreisen mithalfen, Deutschland zu diesem einmaligen, wundervollen und liebenswerten Land zu machen.
Neue Impulse
Ich bin dankbar, dass ich ein Teil davon bin. Und ich denke nicht daran zuzuschauen, wie das alles den Bach runtergeht. Ich bin eine deutsche Frau, und ich liebe dieses Land, in dem ich so frei und sicher leben kann wie in kaum einem anderen.
Deshalb wünsche ich mir mehr aufmerksame Gelassenheit meiner Mitbürgerinnen und Mitbürger für die spannenden Veränderungen, die wir gerade erleben, gute Angebote für die Integration von Menschen, die unserem Land dringend notwendige neue Impulse geben können, und eine harte Hand gegen alle, die unsere demokratischen Werte ausnutzen und missbrauchen. Egal, ob sie Migranten sind oder neue Nazis.