Queerfeindlichkeit in Deutschland Queer-Beauftragte der Berliner Polizei: "Dass die Angriffe brutaler werden, ist nicht nur in Berlin so"

Anne Knoblauch Queer-Beauftragte der Polizei Berlin: Eine Frau in Uniform blickt in die Ferne
Viel zu tun: Alle Anzeigen wegen homophober Taten landen bei Anne von Knoblauch, der Queer-Beauftragten der Berliner Polizei
© Adrián Alarcón Sánchez
Die Queer-Beauftragte der Berliner Polizei, Anne von Knoblauch, hat eine eigene Erklärung für den Anstieg der Zahlen bei homo- und transphoben Hassverbrechen. Sie verteidigt ihre Stadt und appelliert an die Opfer, schneller zu handeln.

Frau von Knoblauch, Sie sind die Queer-Beauftragte der Berliner Polizei. Was genau machen Sie?
Ich bin Ansprechperson nach außen und innen und zugleich so was wie eine Registrierstelle. Ich sensibilisiere meine rund 27.000 Kolleginnen und Kollegen bei der Polizei Berlin für die typischen Hassdelikte, die nichtheterosexuelle Menschen in Berlin erleiden, von Beleidigungen bis zu Gewaltdelikten, die sich leider häufen. An der Polizeiakademie unterrichte ich die Nachwuchskräfte. Jede Nachwuchskraft geht einmal durch das Seminar, das mein Kollege und ich halten. Wir erklären Begriffe und was Hasskriminalität ist. Außerdem landet jedes angezeigte, queerfeindliche Delikt bei uns auf dem Tisch. Auch wenn wir diese selbst nicht ermitteln, erfassen wir die Taten. Falls es Probleme bei den Ermittlungen gibt, können sich Opfer oder Zeugen queerfeindlicher Taten direkt an uns wenden. Wir haben ein Beratungstelefon. Man kann sich übrigens auch anonym an uns wenden.

Sie sagten es bereits: Die Zahl der Gewalttaten in Berlin steigt. Wie homophob ist Berlin im Sommer 2023?
Ich teile Ihren Eindruck nicht. Ich habe nicht das Gefühl in einer homophoben Stadt zu leben.

Ihre eigenen Statistiken zeichnen ein anderes Bild. Täglich werden fast zwei homo- oder transphobe Taten angezeigt – bei einer geschätzten Dunkelziffer von 95 Prozent.
Wir haben derzeit tatsächlich die höchsten Fallzahlen, die es bei homo- und transphoben Straftaten in Berlin jemals gab. Ich führe sie aber vor allem darauf zurück, dass wir eine so erfolgreiche Aufklärungsarbeit machen und sich viele Menschen trauen, Anzeige zu erstatten. Das war früher anders. Außerdem zeichnet die Hauptstadt aus, dass hier eine Meldepflicht besteht, dass also alle homo- und transphoben Straftaten erfasst und an uns weitergeben werden müssen. Außerdem verfügen wir über die Zentralstelle Hasskriminalität. Hier werden alle queerfeindlichen Straftaten bearbeitet. Besser geht es kaum.

Statt "nur" zu beleidigen, schlägt man heute viel schneller zu.

Mir haben mehr als zwanzig queere Menschen berichtet, dass sich Berlin für sie immer unsicherer anfühlt. Viele trauen sich nicht mehr in S- und U-Bahnen oder meiden es, in der Öffentlichkeit ihre Liebe zu zeigen. Und da soll die Stadt kein Problem mit Homophobie haben?
Wir sind die Hauptstadt von Deutschland mit fast vier Millionen Einwohnern und tausenden Touristen. Hier treffen unterschiedliche Menschen aufeinander, unterschiedliche Kulturen und Religionen, unterschiedliche Weltanschauungen. Klar kollidieren die Lebensstile hier miteinander. Irgendjemand fühlt sich immer von etwas angeekelt. Aber das passiert auch woanders. Berlin ist kein Hotspot der Queerfeindlichkeit, ganz im Gegenteil.  

In Neukölln wurde ein Mann von mehr als 20 Jugendlichen verprügelt, weil er eine "schwule Tasche" trug. Am Halleschen Tor wurde ein Paar mit einer abgebrochenen Flasche angegriffen. Trügt der Schein oder werden die Angriffe auf queere Menschen immer brutaler?
Brutaler werden sie tatsächlich. Die Gewalttaten – also Körperverletzung, schwere Körperverletzung, Tritte, Schläge – nehmen drastisch zu. Statt "nur" zu beleidigen, schlägt man heute viel schneller zu. Die Skrupel, jemanden zu verletzen, scheinen in Teilen der Bevölkerung abzunehmen. Dass alle brutaler werden, ist aber nicht nur in Berlin so.

Vor welchen Personengruppen sollten sich queere Menschen diesen Sommer in Berlin denn besonders in Acht nehmen?
Im vergangenen Jahr konnten wir unter den 542 angezeigten homo- und transphoben Straftaten in 309 Fällen den Täter namhaft machen. Davon waren 192 männlich und 41 weiblich. Die sozioökonomischen, religiösen und ethnischen Hintergründe werden nicht erfasst. Was ich sagen kann: Zumeist geschehen die Attacken auf queere Menschen aus Gruppen junger Männer heraus. Sie wollen ihre Männlichkeit beweisen, wenn sie ein schwules Pärchen sehen. Wahr ist aber auch, dass Frauen mehr aushalten, ehe sie Anzeige erstatten. Ich kenne lesbische Frauen, die mir berichten, dass sie auf jeder U-Bahnfahrt homophob beleidigt werden. Wenn sie alles anzeigen würden, hätten sie viel zu tun – und die Statistik sähe anders aus.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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… was noch mehr Zweifel an den veröffentlichten Zahlen weckt. Kommen wir zu den Vierteln. Während unseres Händchenhalt-Experiments haben wir uns besonders in Reinickendorf, Marzahn und Neukölln unwohl gefühlt. Die meisten Gewaltverbrechen werden aber aus vermeintlich toleranten Kiezen gemeldet, aus Mitte, Prenzlauer Berg, dem Lesben- und Schwulenviertel Schöneberg. In welchen Vierteln würden Sie derzeit davon abraten, sich offen als queer zu zeigen?
Wir haben in Berlin keine No-Go-Areas. Homophobe Kriminalität kann überall geschehen, im ganzen Stadtgebiet. Hier gibt es keine bestimmten Bereiche.

Wie oft gelingt es der Polizei Berlin, angezeigte homo- und transphobe Übergriffe aufzuklären?
Die Aufklärungsquote ist derzeit bei 43 Prozent. Das bedeutet, dass fast die Hälfte der Straftaten aufgeklärt wird.

Einige Gewaltopfer berichteten mir gegenüber, dass die Beamten die Anzeigen nicht schnell genug weitergegeben hätten. Mit dem Resultat, dass Videos aus U- und S-Bahnhöfen nicht gesichert werden konnten. Die Täter kamen davon. Wie erklären Sie das den Betroffenen?
Wer solche Erfahrungen macht, ist frustriert. Das verstehe ich. Wie gesagt, es arbeiten 27.000 Polizistinnen und Polizisten in Berlin und bei den geschilderten Erfahrungen wird es sich sicher um Einzelfälle handeln. Wer so etwas, wie Sie es beschrieben haben, erlebt hat, möge bitte sofort mit mir Kontakt aufnehmen. Dann kümmere ich mich um die Angelegenheit.

Nehmen immer noch zu viele Polizisten in den Bezirken trotz Ihrer Seminare die trans- und homofeindliche Gewalt nicht ernst genug?
Das kann man so pauschal nicht sagen. Natürlich haben wir auch viele ältere Beamte, die dem Thema nicht zugeneigt sind, vielleicht auch Angst vor Schwulen oder Transpersonen haben. Aber das ändert sich gerade. Ich nehme wahr, dass die heutigen Jahrgänge an der Polizeiakademie ganz anders mit dem Thema umgehen als noch die Vorgängerklassen vor ein paar Jahren. Wenn ich den Nachwuchskräften früher die queere Welt vorgestellt habe, hatte ich oft das Gefühl, mich zum Deppen zu machen. Es war, als würden sie lachen, worüber ich redete. Dieses Gefühl habe ich heute nicht mehr. Die Nachwuchskräfte diskutieren und haben Spaß am LSBTIQ-Tagesseminar (Anm.d.Red.: LSBTIQ ist die Schreibweise, die die Berliner Polizei verwendet). Auch ältere Polizisten bedanken sich oft bei mir, weil sie endlich lernen, dass sie vor queeren Menschen doch keine Angst haben müssen. Mein Ziel ist, dass jeder Polizist und jede Polizistin in Berlin dieses Seminar einmal besucht.

In wohl keiner anderen Stadt in Deutschland werden trans- und homofeindliche Taten von so vielen Organisationen erfasst wie in Berlin. Die Zahlen von Polizei, Maneo, L-Support und dem Berliner Register sind aber leider nicht identisch. Es fehlt eine Dunkelfeldanalyse und der Berliner Datenschutzbeauftragte hat Ihnen untersagt, Daten mit den Organisationen auszutauschen. Das wirkt wie unfreiwilliger Täterschutz. Teilen Sie die Kritik?
Es hat uns jahrelang geholfen, die anonymisierten Fälle zu vergleichen. Wir haben ja keine personenbezogenen Daten veröffentlicht, sondern es ging immer nur um den Bezirk, den Tatort und was passiert ist. Seit zwei Jahren dürfen wir die Fälle in Berlin nicht mehr abgleichen. Für unsere Partner, also die genannten Organisationen, ist die Situation schlimmer als für uns. Ich bedaure das und würde mir auch eine Dunkelfeldstudie wünschen. Aber das ist eine rechtliche und eine politische Entscheidung.

Ich gehe auch 2023 von mehr gemeldeten Fällen aus

Worauf sollten queere Menschen achten, wenn sie eine Anzeige erstatten?
Wichtig ist, die Polizisten während der Sachverhaltsschilderung mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass es sich um eine homophobe Tat bzw. ein homophobes Hassverbrechen handelt. Wenn diese Bezeichnung fehlt oder Sie Zweifel haben, sollte man mich anrufen. In den Berliner Polizeidienststellen stehen zudem 102 Multiplikatorinnen und Multiplikatoren bereit, die für queerfeindliche Fälle geschult sind.

Ein Blick nach vorne: Rechnen Sie damit, dass die Zahl der homo- und transphoben Gewalttaten in Berlin weiter ansteigt?
Ich gehe auch im Jahr 2023 von mehr gemeldeten Fällen aus. Aber wie ich es auch schon eingangs erwähnte, denke ich, dass die Anzeigenbereitschaft steigt und Menschen sich trauen zur Polizei zu gehen und Vertrauen haben.

"Mir wurde in Berlin eine Waffe an den Kopf gehalten": Betroffene berichten von homo- und transphoben Angriffen
"Mir wurde in Berlin eine Waffe an den Kopf gehalten": Betroffene berichten von homo- und transphoben Angriffen
© stern.de
"Mir wurde in Berlin eine Waffe an den Kopf gehalten": Betroffene berichten von homo- und transphoben Angriffen

Was hat Sie dazu bewogen, Queer-Beauftragte bei der Polizei zu werden?
Vor zwölf Jahren habe ich einen unangenehmen Vorfall erlebt. Ich wurde auf der Straße als "Scheiß Lesbe" beschimpft und mir wurde ins Gesicht geschlagen. Als ich Anzeige erstattete, lief nicht alles glatt. Statt von den auf Hassverbrechen spezialisierten Kollegen des Landeskriminalamts wurden wir auf einer Polizeidirektion von einem Polizisten vernommen. Das ließ mich nicht mehr los. Ich verfasste mit meiner damaligen Freundin, die auch Polizistin ist, ein Konzept, um alle Polizeidienststellen zu schulen. Mein Ziel war, dass jeder queerfeindliche Vorfall die Aufmerksamkeit erhält, die er verdient. Das ist bis heute mein Antreiber. Den Job als Queer-Beauftragte mache ich nun seit sechs Jahren und ich hatte noch nie eine Aufgabe bei der Polizei, die mir so viel positive Resonanz eingebracht hat. Wann hört man als Polizistin schon mal das Wort "danke"? Das erlebe ich fast jeden Tag.